Es ist der Klassiker der Geldpolitik: Notenbanken begründen Zinserhöhungen meist mit der Notwendigkeit, eine Lohn-Preis-Spirale zu verhindern. Bei ihrer jüngsten Klausurtagung im finnischen Inari nördlich des Polarkreises könnte die Realität manchem aus der Führungsriege der Europäischen Zentralbank (EZB) allerdings kalte Schauer über den Rücken gejagt haben. Denn der eigentliche Treiber der aktuellen Inflation sind steigende Gewinnmargen der Unternehmen und keineswegs Lohnforderungen der Beschäftigten.

Die dort präsentierten Daten zeigten, dass Unternehmen ihre Preise in den vergangenen Monaten stärker angehoben hätten, als es zum Ausgleich gestiegener Kosten notwendig gewesen wäre, sagen mehrere Teilnehmer des Treffens. So kämen beispielsweise die europäischen Konsumgüter-Hersteller aktuell auf eine durchschnittliche Gewinnmarge von 10,7 Prozent, ein Viertel mehr als 2019, also vor Ausbruch der Coronavirus-Pandemie und des Ukraine-Krieges.

Die Löhne hinkten der Teuerungsrate dagegen hinterher. Daher hätten Beschäftigte seit 2021 fünf Prozent ihres Lebensstandards eingebüsst. Damit unterscheidet sich die aktuelle Inflationswelle von derjenigen der 1970er Jahre, die meist als Referenz herangezogen wird. Damals trieben hohe Lohnzuwächse die Preise. "Der öffentliche Diskurs ist bis zu einem gewissen Grad losgelöst von dem, was da draussen tatsächlich passiert", moniert Philipp Heimberger, Volkswirt des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche.

Umdenken und Umschwenken

In den Köpfen der EZB-Führung scheint dies aber noch nicht angekommen zu sein. Notenbank-Chefin Christine Lagarde erwähnte Löhne in ihrer jüngsten Pressekonferenz 14 Mal, Firmengewinne dagegen überhaupt nicht. Ihr Vize Luis de Guindos warnte vor überzogenen Lohnforderungen der Gewerkschaften. "Man sieht eine deutliche Abneigung gegen die Diskussion über Gewinne", sagt Wirtschaftsprofessorin Daniela Gabor von der University of West England in Bristol. Das zeige, dass die Geldpolitik darauf ziele, Firmengewinne und Kapital zu schonen.

Aus der EZB-Führungsriege haben bislang lediglich Fabio Panetta und Mario Centeno steigende Gewinnmargen der Unternehmen ins Gespräch gebracht. Dieses Thema könnte den Befürwortern einer lockereren Geldpolitik Argumentationshilfen gegen weitere Zinserhöhungen liefern. Bislang rechnen Börsianer mehrheitlich damit, dass die EZB den Schlüsselsatz bei der Sitzung Mitte März um einen weiteren halben Prozentpunkt auf dann 3,00 Prozent anhebt. Das wäre der höchste Stand seit der Finanzkrise von 2008.

Weitere Reallohn-Verluste erwartet

Ungeachtet der jüngsten Streiks und Lohnforderungen ist eine Lohn-Preis-Spirale Analysten zufolge nicht zu befürchten. Denn die erwarteten Lohn-Steigerungen glichen die Reallohn-Verluste des vergangenen Jahres nicht aus. Der entscheidende Grund hierfür sei die geringere Verhandlungsmacht der Beschäftigten, erläutert Wirtschaftsprofessor Mattias Vermeiren vom Ghent Institute for International and European Studies. Diese sei durch die Liberalisierung der Arbeitsmärkte seit den 1980er Jahren geschwächt worden.

Während der Inflationskrise der 1970er Jahre entfielen Daten von Eurostat zufolge fast 70 Prozent der Wirtschaftsleistung auf die Arbeitnehmer und nur gut 20 Prozent auf Gewinne. Heute machten Erstere nur noch 56 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, während der Anteil der Gewinne auf 30 Prozent gestiegen sei.

Den Insidern zufolge diskutierte die EZB-Führung diese Diskrepanzen bei ihrer Klausur. Zu einer einheitlichen Linie fand sie aber nicht. Einige Mitglieder hätten argumentiert, dass eine anhaltende Phase hoher Inflation die Gehaltsforderungen in einer Weise erhöhen könnte, die sich nicht vorhersagen lasse. Den Befürwortern einer strafferen Geldpolitik spielt dabei die anhaltend hohe Teuerung in Deutschland von derzeit 8,7 Prozent und anderen europäischen Staaten in die Hände.

Nach Einschätzung von EZB-Chefvolkswirt Philip Lane könnte sich das Thema steigender Gewinnmargen bald von selbst erledigen. "Die europäischen Unternehmen wissen, dass sie Marktanteile verlieren, wenn sie die Preise zu stark anheben."

(Reuters)