Als für Simon Harris im März der Weg frei wurde, um Irlands neuer Ministerpräsident zu werden, zeigte er seinen Dank auf seiner bevorzugten Plattform: TikTok. In einem Video wandte sich der 37-Jährige, der am Dienstag offiziell im Amt bestätigt und damit zu Irlands jüngstem Taoiseach (Regierungschef) werden dürfte, an seine 95'000 Follower. Er erzählte ihnen von seinem Aufstieg von einem «rechthaberischen, launischen Teenager», der sich über die mangelnde schulische Unterstützung für seinen autistischen Bruder aufregte.
Harris, der manchmal auch als «TikTok Taoiseach» bezeichnet wird, gehört zu jenen europäischen Politikern, die von der Social-Media-Plattform der chinesische Muttergesellschaft ByteDance intensiv Gebrauch machen. Ihrer Meinung nach ist die Notwendigkeit, jüngere Wähler zu erreichen, grösser als die Sorge um die Sicherheit des Portals.
Das Reuters Institute for the Study of Journalism hat 2023 festgestellt, dass immer weniger Menschen den traditionellen Medien vertrauen und sich immer mehr auf TikTok informieren. Laut dem Bericht bedienen sich 20 Prozent der 18- bis 24-Jährigen des rasant wachsenden Netzwerks auch für politische Nachrichten. In Deutschland nutzen immerhin zwei Drittel der 14- bis 19-Jährigen diese Plattform, wie der Politikberater Johannes Hillje zu Reuters-TV sagte. In vielen Ländern dominieren auf TikTok rechtspopulistische Parteien.
Angesichts der Europawahlen Anfang Juni drängen deshalb auch in Deutschland gerade viele Mitte-Parteien auf die Plattform. Denn erstmals wurde das Mindestwahlalter auf 16 Jahre gesenkt. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz eröffnete am Montag einen TikTok-Account. «Ich tanze nicht. Versprochen», schrieb er auf der Plattform X in Anspielung darauf, dass auf TikTok meist kurze Tanz-Videos geteilt werden.
Andere Debatten in den USA
Gleichzeitig wird TikTok im Westen jedoch zunehmend unter die Lupe genommen. Es wird befürchtet, dass die Daten in die Hände der chinesischen Regierung gelangen könnten oder die App zur Beeinflussung der Nutzer missbraucht werden könnte. Die deutschen Sicherheitsbehörden haben deshalb vor der App gewarnt. Grossbritannien und Österreich verbannten TikTok 2023 von den Diensttelefonen der Regierungsangestellten. Belgien hat Ministern und Beamten ebenfalls verboten, TikTok auf ihren offiziellen Geräten zu installieren. Aber Politiker umgehen dies, indem sie die App auf separaten Geräten nutzen. Es gibt zudem eine Debatte darüber, ob der Algorithmus des Systems Hassbotschaften und Negativnachrichten unterstützt.
In den USA wollen Kongress-Abgeordnete nun sogar den Verkauf der Plattform durch ihren chinesischen Eigentümer erzwingen oder sie aus den App-Stores verbannen. US-Präsident Joe Biden - der selbst einen Account hat - hat bei Chinas Präsidenten Xi Jinping Bedenken angemeldet, weil der Einfluss bei 170 Millionen Nutzern in den USA als sehr gross gilt. Auch US-Finanzministerin Janet Yellen sprach das Thema bei ihrem Besuch in Peking am Montag an.
TikTok betont, die Sorgen um die Sicherheit seien ungerechtfertigt und die Plattform sammle nicht mehr Informationen als andere Apps. Um die Bedenken zu zerstreuen, hat TikTok im vergangenen Jahr angekündigt, die Daten der europäischen Nutzer in Dublin zu speichern. Ein externes Sicherheitsunternehmen wurde mit der Überwachung der Datenströme beauftragt. ByteDance und die chinesische Regierung bestreiten zudem, dass das Produkt für Spionagezwecke verwendet wird.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sich von diesen Befürchtungen ohnehin nicht abschrecken lassen: Er hat seit seinem Beitritt zu TikTok im Jahr 2020 mittlerweile vier Millionen Follower gesammelt. In Deutschland ist die Hinwendung hochrangiger Politiker zu TikTok ein neuerer Trend, wobei Gesundheitsminister Karl Lauterbach der erste Minister des Landes war, der im März einen Account eröffnete. «Die Revolution bei TikTok: Sie beginnt heute», kündigte er an.
Die etablierten Parteien in Panik
«Wir können die sozialen Medien nicht der AfD überlassen», sagte der SPD-Politiker mit Blick auf die rechtspopulistische Partei, die in Umfragen zur zweitstärksten Kraft in Deutschland aufgestiegen ist. Tatsächlich dominiert unter den deutschen Parteien die AfD auf TikTok: Die Partei hat dort 411'000 Follower, weit mehr als andere. «Alle anderen demokratischen Parteien sind im Moment in Panik, um diese wichtige Plattform und die junge Wählerschaft nicht dieser radikalen Partei zu überlassen», erklärte Politikberater Hillje.
Gesundheitsminister Lauterbach sagte, auch er habe Vorbehalte gegenüber TikTok, erkenne aber dessen Wirksamkeit an. «Ich gebe der Plattform keine Legitimation, indem ich sie nutze.» Um Datenlecks zu vermeiden, habe er ein separates Telefon für die Nutzung von TikTok gekauft. Auch Macrons Team sagt, dass der französische Präsident die Nützlichkeit von TikTok und die Notwendigkeit einer Regulierung als getrennte Themen sehe. Man könne jenen Teil der Bevölkerung nicht ignorieren, dessen grosse Mehrheit keine Fernsehnachrichten sehe oder Zeitungen lese, sagte ein Berater, der nicht namentlich genannt werden wollte.
(Reuters)