Der Urnengang am 14. Mai, der in das Jahr des hundertjährigen Bestehens der türkischen Republik fällt, ist Erdogans bisher grösster Test. Viele Wähler machen ihn persönlich für die wirtschaftliche Misere im Land verantwortlich. In Umfragen liegt mittlerweile der Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu vorn, der eine andere Wirtschaftspolitik will.
"In der Vergangenheit konnte Erdogan seinen Anhängern viel bieten, aber die Wirtschaftskrise hat ihm geschadet", sagt Seda Demiralp, Vorsitzende der Abteilung für internationale Beziehungen an der Isik-Universität in Istanbul. "Seine Anhänger mögen ihn immer noch, sie lieben ihn sogar. Aber sie sind unglücklich darüber, dass sie den Preis dafür zahlen müssen." Der selbsternannte "Zinsfeind" Erdogan hat die Geldpolitik lockern lassen anstatt die enorm hohe Inflation mit höheren Zinsen zu bekämpfen. Diese nagt nun an der Kaufkraft der Türken.
Die Regierung behauptet, dass die Zinssenkungen Exporte und Investitionen angekurbelt haben. Sie verdoppelte in den vergangenen anderthalb Jahren den Mindestlohn und gab Rekordbeträge für Sozialhilfe aus. Das hat dazu beigetragen, dass das Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr bei mehr als fünf Prozent gelegen hat. Auch die Arbeitslosigkeit sank von fast 14 Prozent in den vergangenen beiden Jahren auf aktuell etwa zehn Prozent, so die offzielle Statistik.
Nicht in den Griff bekommen hat die Regierung dagegen die Inflation, die im vergangenen Jahr zeitweise bei mehr als 85 Prozent lag - die Verbraucherpreise sich also binnen eines Jahres beinahe verdoppelt haben. Ein Grund dafür sehen Ökonomen darin, dass die Zentralbank wie von Erdogan gewünscht ihren Leitzins gesenkt hat - von 19 auf aktuell 8,5 Prozent. Das letzte Mal, dass die jährliche Inflationsrate das offizielle Ziel von fünf Prozent erreichte, war 2011.
Erdogan schien lange unantastbar
Damals begann auch der international anerkannte Gini-Index- - der die Ungleichheit bei Einkommens- und Vermögensverteilung misst - zu steigen. Dieser Trend beschleunigte sich 2013 und machte die großen Zuwächse aus den Jahren 2006 bis 2010, dem ersten Jahrzehnt von Erdogans Amtszeit als Regierungschef, wieder zunichte. Die im Grossbritannien ansässige Denkfabrik Legantum Institute stuft die Türkei in ihrem Wohlstandsindex weltweit auf Platz 95 ein, womit sich das Land seit 2011 um 23 Plätze verschlechtert hat.
Ab 2013 begannen ausländische Investoren, sich aus türkischen Anlagen zurückzuziehen. Die Folge: Die Devisen-, Kredit- und Schuldenmärkte des Schwellenlandes, das unter westlichen Fondsmanagern einst als Star gehandelt wurde, wird nun stark staatlich verwaltet.
Erdogans aufstrebende AK-Partei (AKP) kam 2002 an die Macht, als sich die Wirtschaft von ihrem schlimmsten Einbruch seit den 1970er Jahren erholte. Er punktete mit dem Versprechen, mit der jahrelangen Misswirtschaft zu brechen. Als Ministerpräsident kam ihm anfangs zugute, dass die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegten Sparmaßnahmen nachließen. Es folgte ein Jahrzehnt des wachsenden Wohlstand mit sinkender Armut und Arbeitslosigkeit. Auch die Inflationsrate, die ein Jahrzehnt zuvor dreistellig war, sank. Das wiederum erhöhte die Attraktivität der türkischen Landeswährung Lira. Die westliche Politik des billigen Geldes als Reaktion auf die Finanzkrise von 2008/09 führte zu einem Ansturm billiger ausländischer Kredite und befeuerte den türkischen Bauboom.
Erdogan schien unantastbar. Doch das änderte sich 2013, als die Proteste rund um den Istanbuler Gezi-Park das Land erfassten und zu zahlreichen Zusammenstößen, Verhaftungen und Inhaftierungen führten. Gleichzeitig versiegte das billige Geld aus dem Westen, was eine Abwanderung von Finanzmitteln aus der Türkei auslöste und den Boom der billigen Kredite bremste. Die Lira hat in den vergangenen fünf Jahren um 80 Prozent zum Dollar abgewertet. Das schwächt die Kaufkraft der Türken, ist doch das rohstoffarme Land stark auf Importe angewiesen, die durch die Lira-Abwertung teurer eingekauft werden mussten.
Der von Teilen des Militärs verübte Putschversuch von 2016, für den Ankara den in den USA lebenden Geistlichen Fethullah Gülen verantwortlich macht, führte zu einem Ausnahmezustand. Dieser habe "Erdogans personalistische Herrschaft formalisiert, die von einer Reihe unterwürfiger Berater mit fragwürdigen Referenzen unterstützt wird", sagt Ates Altinordu, Assistanzprofessor für Soziologie an der Sabanci Universität. "Das Zusammentreffen dieser Faktoren schuf den perfekten politischen Sturm für wirtschaftliches Versagen."
Kommt es zum Crash?
Andere Schlüsselbereiche wie das Gesundheitswesen oder die Infrastruktur sind jedoch nach wie vor stabil. Hier hat sich seit Erdogans Amtsantritt 2003 vieles stark verbessert, was seiner AKP zu mehr als einem Dutzend Wahlsiegen verhalf.
In den vergangenen zehn Jahren haben sich die politischen Spaltungen im Land verschärft, nachdem sich Erdogan nationalistischen Verbündeten zuwandte, um sich parlamentarische Mehrheiten zu sichern. Später gewann er ein knappes Referendum über die Einführung des Präsidialsystems, das die Macht in seinem Palast konzentriert. Einige wichtige Wirtschaftsfunktionäre verliessen die AKP aus Protest dagegen.
"Jeder erinnert sich an die frühe Erdogan-Regierung, als es hiess, er würde eine integrative Wirtschaft schaffen", sagt Bülent Gultekin, ein ehemaliger türkischer Zentralbankgouverneur und ausserordentlicher Professor an der Wharton University. "Aber in Wirklichkeit hat sie noch nie dagewesene Teile der Gesellschaft vollständig von der Regierung abhängig gemacht, und das ist unhaltbar."
Sollte Erdogan die Wahl gewinnen und seine Wirtschaftspolitik fortsetzen, werde es irgendwann zu einem kompletten Crash kommen. Gultekin warnt: "Du kannst Dinge für eine Weile verschieben, aber irgendwann musst du die Rechnung bezahlen."
(Reuters)