Die starke Risikobereitschaft des Marktes nimmt eine überraschende Wendung, da die Anleger auf der Jagd nach Rendite die Zölle und die potenzielle Volatilität im Sommer ausser Acht lassen.

Die US-Aktien bewegen sich in der Nähe von Rekorden und Europa hat seinen Aufwärtstrend wieder aufgenommen, so dass das Aktienbild sehr rosig aussieht. Unter der Haube ist eine überraschende Rotation im Gange: Gewinnmitnahmen machen sich bei Gewinnern wie Finanztiteln breit, aber anstatt sich auf sicherere Titel zu konzentrieren, investieren die Anleger in zyklische Wetten auf die Wirtschaft und andere riskantere Strategien.

«Die Märkte sind wieder dazu übergegangen, ein 'Goldlöckchen'-Hintergrundszenario zu bewerten, was durch die eher zurückhaltenden Erwartungen der Fed und ein robustes makroökonomisches Umfeld begünstigt wird», sagen die Strategen von Goldman Sachs, darunter Christian Mueller-Glissmann. Die Kombination aus hohen Bewertungen und potenziell uneinheitlicheren Makrodaten deuten auf eine leicht negative Asymmetrie für Aktien auf kurze Sicht hin, so das Goldman-Team und ergänzt: «Die schlimmsten Tail-Risiken für Aktien haben sich zwar abgeschwächt, aber die Handelszölle könnten die US-Konjunktur in der zweiten Jahreshälfte gefährden.»

«Drei potenzielle Bären» trüben das Bild

Sie warnen davor, dass «drei potenzielle Bären» das positive Bild trüben könnten: Eine grosse negative Wachstumsüberraschung, die einen weiteren Aktienrückgang auslöst, ein grösserer Zinsschock, der auf Anleihen mit langer Laufzeit lastet, und ein sich verstärkender Rückgang des Dollars, der Benchmark-Portfolios mit mehreren Anlageklassen in Mitleidenschaft zieht. Müller-Glissmann und seine Kollegen empfehlen Long-Volatilitäts- und Long-Skew-Optionsgeschäfte in der zweiten Jahreshälfte, nachdem die Volatilität in letzter Zeit wieder gesunken ist.

Mit zunehmender Risikobereitschaft nehmen auch die Verwerfungen zu. Die Renditen von Staatsanleihen sind zwar noch nicht wieder in der Gefahrenzone, befinden sich aber weiterhin auf einem hohen Niveau. Die 10-jährige Rendite liegt bei 4,3 Prozent, während die 30-jährige Rendite immer noch bei 5 Prozent liegt, ein Niveau, das im Mai die Aktienkurse ins Wanken brachte. Aus dem Protokoll der Fed geht hervor, dass eine Zinssenkung noch in diesem Monat kaum zu erwarten ist.

Händler an den Anleihemärkten halten Zinssenkungen in den USA zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr für wahrscheinlich, da sie eine Verlangsamung der Wirtschaft erwarten. Bei den Aktien investieren die Anleger verstärkt in zyklische Werte, was darauf hindeutet, dass sie ein stärkeres Wachstum einpreisen.

«Das ist nicht stimmig», sagt Apollo-Chefvolkswirt Torsten Sløk. «Entweder liegt der Anleihemarkt falsch, und die Zinsen müssen aufgrund des sich beschleunigenden Wachstums steigen. Oder die Aktienmärkte irren sich, und die Aktien müssen sinken, weil sich das Wachstum verlangsamt.»

Risikoreiche Trades rücken in den Fokus

Thematische Strategien bleiben in der Offensive, allerdings mit einer gewissen Rotation in der Mischung. Der Long/Short-Momentum-Handel ist nach wie vor die grösste Schwachstelle, während andere risikoreiche Trades wie Quantencomputing, Bitcoin und die am stärksten geshorteten Aktien weiterhin an der Spitze der Rangliste stehen. Das Verhältnis zwischen zyklischen und defensiven Werten ist nach wie vor solide, aber andere Trades holen auf, wie z.B. zollexponierte Körbe, gerade jetzt, wo die Schlagzeilenrisiken im Zusammenhang mit der Handelspolitik wieder auftauchen. Und der Appetit auf Defensivswerte ist ungebrochen.

Insgesamt können institutionelle Anleger gar nicht genug in Aktien investieren, und die Allokation stieg im Juni aggressiv an, so die Strategen von State Street Markets. Die Positionierung in Aktien entspricht dem Stand zu Jahresbeginn, und die erhöhte Allokation wurde hauptsächlich durch eine Umschichtung weg von Barmitteln finanziert, ein weiteres risikofreudiges Signal, sagen sie. Die Bestände an Anleihen sind praktisch unverändert.

«Die institutionellen Anleger in der Depotdatenbank von State Street haben den Monat Juni damit verbracht, ihre Portfolios risikoreicher zu gestalten, da die Pause in den Handelsspannungen und der Rückgang der Marktvolatilität sie vielleicht dazu bewogen haben, Risiken einzugehen», sagt Marija Veitmane, Leiterin des Aktienresearchs des Unternehmens. «Wir haben festgestellt, dass das Narrativ vom 'Handelskrieg' seinen Einfluss auf die Märkte verliert. Wir stellen eine besonders starke Risikobereitschaft bei Aktien fest, wo die Anleger ihre Übergewichtungen in den USA wieder aufbauen.»

Megacaps und Bitcoin im Aufwärtstrend

Das zeigt auch ein Blick auf den CNN Fear & Greed Index der eine «extreme Gier» signalisiert, ein Hinweis auf die Aufwärtsdynamik des Marktes. Der Index misst die Marktstimmung, indem er die Emotionen der Anleger in Bezug auf Angst («Fear») oder Gier («Greed») erfasst. Er basiert auf sieben Faktoren, darunter Volatilität und die Kursentwicklung grosser Aktien. Dabei legte der Indikator für die Megacaps um 1,1 Prozent zu, wobei Nvidia seinen diesjährigen Anstieg auf mehr als 20 Prozent ausbaute.

Ein weiteres Zeichen für die Risikobereitschaft war, dass der Bitcoin am Mittwoch zum ersten Mal die Marke von 112’000 Dollar überschritt. Trump stellte am Mittwoch eine neue Runde von Zollforderungen vor, wobei der brasilianische Satz einer der höchsten ist, die bisher für die Abgaben angekündigt wurden, die im August in Kraft treten sollen. «Die Märkte sind trotz einer Welle von Handelsschlagzeilen in eine Phase der Ruhe eingetreten», sagte Mark Hackett von Nationwide. «Da die Marktreaktion auf das Auf und Ab der Zollnachrichten gedämpft wurde, ist der nächste Katalysator die Gewinnsaison.»

(Bloomberg)