cash.ch: Herr James, Baillie Gifford investiert mit einem Zeithorizont von mindestens fünf bis zehn Jahren. Wie schaffen Sie es, in einer Welt mit kurzfristigen Zyklen und hoher Volatilität langfristig zu denken?
Ben James: Zu sagen, man brauche einfach Geduld, klingt immer so leicht dahergesagt. Man kann es eher mit einem Langstreckenläufer vergleichen, der über den Schmerz hinwegläuft. Denn es gibt Phasen, in denen man blöd aussieht. Das heisst wir müssen akzeptieren, dass wir manchmal gegen den Markt laufen und kurzfristig underperformen werden. Die Organisationsstruktur und Kultur von Baillie Gifford bilden die Grundlage für unseren geduldigen Anlageansatz.
Was sind die Risiken einer solchen Anlagestrategie?
Man muss den kurzfristigen Risiken - zum Beispiel Sorgen über eine konsumgetriebene Rezession oder ob wir zu stark oder zu wenig in den KI-Zyklus investiert sind - gerecht werden, ohne dabei die langfristigen Chancen aus den Augen zu verlieren. Wir wollen die besten Unternehmen halten, aber gleichzeitig nicht unnötig extreme Volatilität erzeugen, obwohl unser Ansatz naturgemäss volatiler ist als der Markt. Letztlich suchen wir nach herausragenden Wachstumsunternehmen.
Wie erkennen Sie solche langfristigen Chancen?
Wir nutzen Modelle, die uns helfen, strukturelle Veränderungen zu erkennen. Also was wird sich in der Gesellschaft verändern, nicht nur in einer einzelnen Branche, und welche Unternehmen werden diesen Wandel vorantreiben oder davon profitieren? Zum Beispiel trinken junge Menschen weniger Alkohol und was heisst das für Alkoholhersteller? Oder Verschiebungen in Mode und Technologie oder die neue Infrastruktur, woraus Cloud, E-Commerce oder Social Media entstanden.
Welche sozialen Veränderungen und Trends sind derzeit Quellen für Wachstumsaktien?
KI wird sicherlich alles verändern, darüber reden ja sowieso schon alle. Aber spannender finde ich Themen wie den agentischen Handel. Also statt auf Booking.com, Hotelwebsites oder Flugportalen alles einzeln zusammenzuklicken, wird die komplette Urlaubsbuchung über ChatGPT abgewickelt. Davon profitieren Firmen wie Shopify, Cloudflare oder Stripe, welche die Infrastruktur dafür aufbauen. Und dann natürlich noch Automatisierung, Robotik, Healthcare oder die Elektrifizierung und Automatisierung von Transport. Es gibt unglaublich viele Entwicklungen.
Welche Firmen können davon profitieren?
Wir sind zum Beispiel bei Aurora Innovation investiert - die machen selbstfahrende LKWs. Es ist früh, aber die Herangehensweise ist spannend. Sie haben inzwischen zwei 100-Meilen-Strecken in Texas, auf denen die Trucks völlig autonom zwischen Lagern hin- und herfahren. Bald sollen es vier, dann acht Strecken sein. Im US-Truckermarkt gehen 30 Prozent der Kosten aufs Personal zurück. Wenn diese autonomen Strecken sich also weiter vervielfachen, dann sprechen wir von einem exponentiellen Wachstum.
Sie haben nun einen Titel erwähnt, in den Sie investieren. Welche Kriterien muss ein Unternehmen erfüllen, um in Ihr Portfolio aufgenommen zu werden?
Wir sind Bottom-up-Stockpicker. Wir suchen aussergewöhnliche Wachstumsunternehmen - egal aus welchem Sektor oder welcher Branche. Wir vergleichen Amazon genauso mit einer Healthcare-Firma oder einem Werbeunternehmen, um herauszufinden, wo langfristig die grössere Chance liegt. Aussergewöhnliche Wachstumsunternehmen zeichnen sich im Wesentlichen durch drei Merkmale aus: Sie erschliessen ein grosses Marktpotenzial im Verhältnis zu ihrer heutigen Grösse und haben einen nachhaltigen Vorteil etwa durch die Technologie, das Geschäftsmodell oder eine starke Marke. Ein gutes Beispiel ist Shopify, die sich radikal auf Händler fokussieren, ihr Produkt modular aufbauen, sodass Kunden klein einsteigen und dann immer mehr nutzen. Sie investieren viel in Wachstum, R&D und setzen stark auf KI. Das ist genau die Art von Vorteil, die wir meinen. Und schliesslich, benötigen aussergewöhnliche Wachstumsunternehmen eine effektive Firmenkultur, die es ihnen ermöglicht, solch grosse Chance wirklich zu nutzen.
Wie sieht eine solche Firmenkultur aus?
Die meisten Firmen, vor allem in den USA, werden kurzfristig geführt. Exceptional Growth-Unternehmen dagegen haben oft Gründer oder langfristig denkende Teams an der Spitze, die das Unternehmen über ein Jahrzehnt oder länger entwickeln wollen. Die sind meistens getrieben von einer Mission, also geht es nicht primär um schnellen Profit, sondern darum, etwas zu verändern, Probleme zu lösen, Leben zu verbessern. Und diese Haltung sorgt über 10 Jahre hinweg für den grössten Unterschied. Deshalb schauen wir uns die Menschen an: Wie behandeln sie Kunden? Wie verhalten sie sich unter Druck? Sind sie konsequent? Ein Beispiel: Toby Lütke, CEO von Shopify. Als KI so richtig hochkam, hat er das komplette Logistikgeschäft abgestossen, weil es nicht zur langfristigen Mission passte – und den Fokus radikal auf KI gedreht. Das ist kulturelle Klarheit, und genau so etwas suchen wir.
Wann verlassen Sie eine Position?
Der Autor Philip Fisher sagt in seinem Buch: Der beste Zeitpunkt zu verkaufen ist fast nie. Bei uns gibt es zwei Szenarien, in denen wir eine Position wirklich verlassen. Wenn die Aktie fair oder sogar zu hoch bewertet ist oder wenn die Investmentthese gebrochen ist. Ein Beispiel ist Zillow, ein Online-Portal für Immobilien. Zillow ist irgendwann selbst ins Geschäft eingestiegen, dadurch hatten sie massives Marktrisiko aufgenommen, das Modell funktionierte nicht, und sie haben dieses Segment geschlossen. Damit war unsere These kaputt - also sind wir raus. Und natürlich bleibt immer die Frage: Gibt’s irgendwo eine bessere Chance für unser Kapital?
Haben Sie deshalb ihren Anteil bei Tesla von 7 Prozent auf 0,4 Prozent reduziert?
Wir halten Tesla seit vielen Jahren, und die Anlage hat sich für unsere Kunden sehr positiv entwickelt. Inzwischen hat sich jedoch das Investment-Case verändert: Der grösste künftige Werttreiber liegt nun in den Bereichen Energiespeicherung, autonomes Fahren und Robotik – alles noch frühe Entwicklungsfelder im Vergleich zum Kerngeschäft mit Autos. Entsprechend haben wir die Position angepasst und leicht reduziert.
Tesla gehört zu den «Magnificent 7» - sind sie ihren Status noch wert?
Für manche Leute ist es hilfreich, Labels wie «Nifty Fifty», «FANG», oder «Magnificent Seven» zu haben. Aber das sogenannte Meme-Investing ist kein guter Weg, um langfristig Rendite zu machen. Und diese Gruppen wie die «Magnificent Seven» werden oft nur deswegen zusammengeworfen, weil ihre Kurse gestiegen sind - obwohl sie komplett unterschiedliche Dinge tun und in ganz verschiedene Profitpools arbeiten.
Das heisst?
In der Strategie, an der ich arbeite, nehmen wir einige der «Magnificent Seven» nicht auf, weil unsere Renditehürde höher liegt, als wir diesen Mega-Caps realistischerweise noch zutrauen. Natürlich können wir uns irren. Aber ein drei- oder vierfacher Return bei einer Firma, die bereits vier Billionen Dollar wert ist? Das halten wir bei einigen für schwierig. Unser Job ist es also, Zugang zu den nächsten Gewinnern zu bieten - den Unternehmen, die noch nicht im S&P 500 stecken, aber das Potenzial haben, dort irgendwann zu den grossen Positionen aufzusteigen.
Viele der erwähnten Wachstumstitel sind US-Aktien, wieso sticht besonders der US-Markt hervor?
Es ist eines der wenigen Länder, in denen du mit einer Idee, ein bisschen Startkapital und viel Arbeit aus einem Studentenwohnheim heraus in 20 Jahren ein grosses Unternehmen aufbauen kannst. Den American Dream gibt’s wirklich noch, das passiert dort immer wieder. Historisch hat die USA mehr grosse Wachstumsunternehmen hervorgebracht als jedes andere Land, und zwar zusammen genommen. Es ist ein tiefer, liquider und riesiger Markt - also unglaublich viel Raum für Chancen. Ausserdem haben die USA eine lange Tradition akademischer Spitzenforschung. Dieser Mix aus Kapital und Top-Unis zieht wiederum noch mehr Kapital an – und vor allem Talent. Viele der klügsten Leute gehen dorthin, um ihre Firmen zu bauen.
Bleibt das so?
Aus meiner Sicht: ja. Man wird dort weiterhin 30 bis 50 aussergewöhnliche langfristige Wachstumsunternehmen finden. Es bleibt das innovativste und zukunftsorientierteste Ökosystem - vielleicht mit Ausnahme von China. Und China ist der einzige echte Rivale, was Tiefe, Kultur und Innovationskraft angeht. Es ist beeindruckend, wie schnell sich das Land bewegt und wie sehr der Rest der Welt, ausserhalb der USA, aufholen müsste.
Schweizer Investoren sind eher vorsichtig orientiert. Weshalb sollte man Wachstumsaktien trotzdem im Portfolio halten?
Aktien sind volatiler als Cash. Das gehört einfach zur Anlageklasse. Die «defensiven» Unternehmen von früher basieren auf dem alten Paradigma. Aber wenn ein Bergbau- oder Ölunternehmen heute nicht in Automatisierung, KI und Robotik investiert, dann wird irgendwann jemand kommen, der genau das tut und sie überholt. KI und Automatisierung werden überall eingreifen. Man braucht an der Seite des Kernportfolios etwas, das zukünftige Entwicklungen im Blick hat - quasi als moderne Form der Absicherung. Das ist im Grunde eine Art Absicherung gegen Veränderungen in einer Welt, die sich schneller bewegt, als klassische Risikomodelle es erfassen können. Wer das ignoriert, riskiert, disruptiert zu werden.

