Mehr als 114'000 Menschen wurden in den vergangenen zwei Wochen aus der Hauptstadt Kabul ausgeflogen. Dennoch sind Zehntausende Afghanen und auch Staatsangehörige des Westens zurückgelassen worden, vielen - Journalisten, Menschen- und Frauenrechtsaktivistinnen - droht nach ihrer Kooperation mit den Alliierten jetzt die Rache der radikalislamischen Taliban. Wie geht es nun weiter?
Flughafen in Kabul nicht funktionsfähig
Die USA haben 5500 Staatsbürger ausgeflogen. Einige haben sich aber entschieden, bei ihren Familien in Afghanistan zu bleiben. Nach jüngsten Angaben des Auswärtigen Amts befinden sich auch noch rund 200 Deutsche in Kabul. US-Präsident Joe Biden geht wie die Bundesregierung davon aus, dass die Taliban ihre Zusagen einhalten und ihnen bei Bedarf und mit gültigen Papieren freies Geleit ins Ausland garantieren. In der Praxis dürfte sich dies aber als schwierig gestalten. Die Ausreise etwa nach Pakistan, Tadschikistan oder in den Iran über den Landweg ist äusserst beschwerlich. Haupthürde ist allerdings, dass der Flughafen in Kabul derzeit nicht funktionsfähig ist.
Dank des Einsatzes von 6000 US-Soldaten konnte zumindest der militärische Teil des Airports in den vergangenen zwei Wochen dazu genutzt werden, die Menschen auszufliegen. Nun sind die Taliban mit ausländischen Regierungen - etwa mit der Türkei und Katar - im Gespräch, wie zivile Flüge wieder aufgenommen werden könnten, damit weitere bedrohte Menschen das Land schnell verlassen können. Der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu hatte am Sonntag allerdings darauf verwiesen, dass der Flughafen instand gesetzt werden müsse, bevor die zivile Luftfahrt wieder aufgenommen werden könne.
Schon 18 Millionen Afghanen brauchen
Der Nato-Partner Türkei war in den vergangenen sechs Jahren verantwortlich für die Sicherheit am Flughafen in Kabul. Dass der Airport schnell wieder funktionsfähig ist, ist auch die Voraussetzung dafür, dass dringend benötigte humanitäre Güter in das Land gebracht werden können. Damit ist der Flughafen auch ein Schlüssel dafür, dass eine humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan verhindert werden kann. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen benötigen mehr als 18 Millionen Menschen in Afghanistan Hilfe - und damit mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Die Hälfte aller afghanischen Kinder unter fünf Jahren weisen demnach bereits Anzeichen von Unterernährung auf. Zu der unklaren politischen Lage kam zuletzt noch eine zweite Dürre in Afghanistan binnen vier Jahren hinzu.
Die Frage ist nun, wie der Westen politisch mit den Taliban umgehen soll. Einige Länder wie Grossbritannien warnen davor, die neuen Machthaber in Kabul bilateral als Regierung anzuerkennen. Ironischerweise könnten aber die Extremisten des Islamischen Staats (IS) die Taliban und den Westen näherbringen. Der IS-Ableger in Afghanistan, Isis-K, wirft den Taliban vor, eine zu moderate Version des Islam zu vertreten - beide Seiten sind daher verfeindet. Dieser Aspekt wäre eine Möglichkeit etwa für die USA, mit den Taliban zu kooperieren oder zumindest Informationen auszutauschen.
Vergeltungsaktionen angekündigt
Isis-K tauchte erstmals 2014 im Osten Afghanistans auf. Schnell wurde die Gruppe wegen ihrer äussersten Brutalität berüchtigt. Sie hat auch die Verantwortung für den Selbstmordanschlag am 26. August am Kabuler Flughafen übernommen, bei dem Dutzende afghanische Zivilisten und 13 US-Soldaten getötet wurden. Die USA haben darauf mit zwei Drohnen-Angriffen reagiert, Präsident Biden hat weitere Vergeltungsaktionen angekündigt. Die Taliban, obwohl sie auch die US-Aktionen verurteilt haben, dürften dies insgeheim wohlwollend zur Kenntnis nehmen, denn sie müssen eine Schwächung ihrer Position durch Isis-K befürchten. Viele ehemalige Taliban-Kämpfer haben sich US-Geheimdiensten zufolge der noch radikaleren Gruppe angeschlossen.
(Reuters)