cash: Herr Vincenz, in 19 Jahren bei Raiffeisen haben Sie häufig zu Politik und Gesellschaft Stellung genommen. War die Politik nie ein Thema für Sie?

Pierin Vincenz: Das «Milizsystem» erlaubt es, die Funktionsweise der Politik kennenzulernen. Darum müssen wir auch junge Banker für eine politische Karriere motivieren. Bei mir hat sich dies damals nicht ergeben – vielleicht, wenn ich im Kanton Graubünden geblieben wäre, hätte ich die nötigen Kontakte gehabt. Ich war aber damals nicht «sesshaft»: Ich war in Chicago, ich arbeitete in der Industrie und war viel unterwegs. Erst als ich 1996 zu Raiffeisen ging, war dies ein bewusster Entscheid, in der Schweiz zu bleiben. Erst dann hätte Politik wieder ein Thema werden können.

Bei Themen wie dem Bankgeheimnis, dem automatischen Informationsaustausch oder der Geldpolitik äusserten Sie umstrittene Überlegungen. Liegt es in Ihrer Natur, bewusst anecken zu wollen?

Ich glaube, wenn man Trends, nicht Modetrends, langfristig beobachtet, dann muss man sich positionieren. Zur unternehmerischen Verantwortung gehört es, Positionen zu beziehen, Klartext zu reden. Banken sind keine eigene Welt: Wir sind im Grunde genommen wie ein Bäcker oder ein Elektriker – also jemand mit einem Produkt oder einer Leistung für den täglichen Gebrauch – und sind so Teil der Gesellschaft.

Glauben Sie, in der Diskussion, etwa um das Bankgeheimnis, etwas zur Entwicklung beigetragen zu haben?
Für den Finanzplatz war sehr wichtig, sich dem Trend zu deklarierten Geldern anzupassen. Das ist in einem entwickelten Land auch eine gesellschaftspolitische Frage.

Was lief falsch?

Hätte man mit diversen Ländern früher zu verhandeln angefangen, hätte man im Sinne der Kunden mehr herausholen können. Denn diese Kunden vertrauten ja uns, den Schweizer Banken. Man sperrte sich zu lange und handelte am Ende unter Zwang. Jetzt haben wir den automatischen Informationsaustausch, der zu lange als Unwort galt, aber wir haben wenig dafür bekommen, wie beim EU-Marktzutritt.
Berichte, dass Sie mit dem Helikopter zu Terminen flogen, kollidierten mit dem bodenständigen Raiffeisen-Bild.

Störte Sie solche Kritik?

Ich sagte immer: Auch bei Raiffeisen kommen wir nicht mit dem Traktor. Es ging mir darum, Selbstbewusstsein zu stärken, daher waren solche Dinge auch ein bisschen provoziert. Man sollte ja nicht das Gefühl haben, Raiffeisen sei «weniger» als die anderen. Aber klar, die Kritik kam und war heftig. Gerne hat man das nicht, aber es ist unvermeidlich. Und mir war schon bewusst, dass man nicht beliebig provozieren konnte. Zu weit ging ich dann auch nicht, ich habe daraus gelernt.

Wie beschreiben Sie Ihren Managementstil – und warum ist dieser der richtige?

Ich setze stark auf unternehmerische Verantwortung und Freiheit. Das heisst auch, dass die Mitarbeiter Ideen bringen und Chancen packen müssen. Für mich gilt der Satz: Kontrolle ist gut, aber Vertrauen ist besser, und nicht umgekehrt. Man muss auch interessante Arbeiten weiterdelegieren. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht, zum Beispiel, als ich 2013 ein zweimonatiges Sabbatical machte.

Entscheiden Sie gerne?

Ja, ich entscheide gerne, ich sage auch den Führungskräften, sie sollen Entscheidungen fällen. Die können auch mal weh tun. Es ist eine Stärke von Raiffeisen, dass wir schnell entscheiden können, trotz dezentraler Organisation.

Beim Kauf eines Teils der Bank Wegelin 2013 attestierte man Ihnen eine gewisse Kaltblütigkeit. Ist auch das Teil Ihrer Persönlichkeit?

Bei Wegelin entschied gemäss der Governance natürlich der Verwaltungsrat, als operativ Verantwortlicher sass ich aber auf dem Fahrersitz.  Wir konnten damals nicht abschliessend beurteilen, ob nicht amerikanische Rechtsfälle auf Raiffeisen überschwappen könnten. Das Risiko ging man bewusst ein, und wäre es schiefgelaufen, wäre es für mich ungemütlich geworden. Dessen war ich mir bewusst. Aber auch das ist unternehmerische Verantwortung!

Raiffeisen ist ein dezentraler Cluster kleiner Banken, aber Sie wurden über die Jahre immer prominenter. Wie verträgt sich das?

Wissen Sie, in Délémont ist der Bankleiter vor Ort das Gesicht von Raiffeisen. Ich bin ja nicht deren Chef, die Banken sind selbstständig. Wir schauten, dass die Banken ihre regionale Identität behalten. In den Belangen der Raiffeisen-Gruppe war es aber schon so, dass ich in den Fokus gelangt bin.

Lag dies auch an den allgemeinen Veränderungen in der Schweizer Bankenwelt?

Das Wachstum, die Strategie oder auch die Finanzkrise führten dazu, dass jemand die Marke vertreten musste. Heute braucht man ein Gesicht, einen Namen. Die Fokussierung auf Personen ist natürlich viel stärker geworden. Mein Nachfolger Patrik Gisel wird sofort in diese Rolle eintreten.

Raiffeisen ist 2014 als systemrelevant eingestuft worden. Gibt das nicht Kritikern recht, die sagten, Raffeisen nehme zu viele Risiken auf sich?

Wenn man so wächst und über viele Jahre eine Erfolgsgeschichte schreiben kann wie Raiffeisen, dann hat man auch Kritiker und Neider. Das Hypothekenwachstum war ein solches Thema. Aber unser Portfolio ist ausbalanciert, wir finanzieren vor allem das selbstbewohnte Wohneigentum. Wir haben pro Jahr 70 000 bis 80 000 Zuwanderer, und die wohnen nicht in Zelten, sondern in Beton. Wir haben da Chancen gepackt, und ich bin sehr zuversichtlich, dass unser Wachstum gesund ist. Die Systemrelevanz ist auch ein Zeichen, dass Raiffeisen gross und bedeutend geworden ist. Eigentlich sind das Good News. Der Kunde weiss auch, dass wir dadurch noch sicherer geworden sind.

In Ihre Zeit als CEO fällt ein Digitalisierungsschub bei den Banken. Haben Sie schnell genug reagiert?

Die Bankenwelt ist vorerst stark damit beschäftigt, zu industrialisieren und zu automatisieren. Digitalisierung ist eine Entwicklungsphase, in der noch vieles offen und schwer abschätzbar ist.

Was heisst dies für Raiffeisen?

Ob «physisches» Bankgeschäft oder digital, es geht immer um einen Markennamen und um die Kunden und den Inhalt: Die Marke Raiffeisen erweckt Sympathie und steht für Kompetenz. Wir haben vier Millionen Kunden in der Schweiz, davon die Hälfte Eigentümer. Das ist eine starke «Community». Und was den Content betrifft: Wir sind mehr als nur ein Bankdienstleister, wir bewegen im Jahr 1,5 Millionen Menschen zu Events. Wir müssen aber agil bleiben und die Community weiter an uns binden, aber auch den Content weiterentwickeln. Das wird auch im digitalen Geschäft weitergehen.

Wie reagieren Ihre mehrheitlich auf dem Land ansässigen Kunden darauf?

Wir haben es schon bei der Einführung des E-Bankings gesehen: Die ländliche Bevölkerung braucht diese digitalen Möglichkeiten viel mehr, als man denkt. Das liegt daran, dass dort die Bank örtlich meistens weiter weg ist. Digital kommt man näher an den Kunden.

Mussten Sie angesichts dieser Veränderungen, Entscheidungen und Initiativen Raiffeisen nicht letztlich zentralisieren?

Wir haben nach wie vor die Autonomie und die Agilität von rund 300 selbstständigen Banken, aber schliesslich haben wir auch eine Gruppe gebildet. Das Verhältnis von Mitarbeitern in den Banken und in der Zentrale – drei Viertel zu einem Viertel – ist immer in etwa gleich geblieben. Klar, die Informatik und teilweise die Verarbeitung sind zentralisiert. Die Regulierung führt auch zu einer gefühlten Zentralisierung.

Wie haben Sie dann die Raiffeisen-Besonderheiten bewahrt?

Der unternehmerische Spirit und die Kompetenzen sind ausgeprägt und bewusst vor Ort geblieben. Das Wachstum mussten wir natürlich über die Gruppe sicherstellen, weil wir erst dann kapitalmarktfähig wurden.

Hätten Sie rückblickend gewisse Dinge anders gemacht? Gibt es verpasste Chancen?

Das sind immer Sachen, die man etwas verdrängt (lacht). In einer unternehmerischen Entwicklung gibt es immer wieder Entscheidungen, die man auch hinterfragen kann. Aber für mich ist wichtig, dass man Initiativen ergreift. Es läuft auch mal etwas nicht so gut. Das muss es auch geben. Aber es gibt substanziell nichts, wo ich einen grossen Fehler sehe.

Sie bleiben über Ihr Mandat bei der Private-Equity-Gesellschaft Investnet stark mit Raiffeisen verbunden. Ganz loslösen können oder wollen Sie sich offenbar doch nicht?

Mit Raiffeisen bleibe ich immer verbunden. Die Aufgabe bei Investnet ist eine interessante und fruchtbringende Kombination. Ich kenne den Finanzpartner und seine Anliegen bestens und kann unternehmerische Initiativen fördern.

Hören wir weiter von Ihnen als Präsident der Helvetia Versicherungen?

Die Rollen eines Verwaltungsratspräsidenten und eines CEO sind verschieden. Ich möchte sie bei der Helvetia so spielen wie bei Raiffeisen, also dass der CEO sich öffentlich engagiert. Das ist auch gut so. Es wird eine neue Herausforderung sein, eine neue Rolle als Verwaltungsratspräsident zu bekleiden. Aber das ist auch gewollt.

Werden Sie Ihren Status in der Öffentlichkeit auch etwas vermissen?

Ich bin überzeugt, dass ich sehr gut vorbereitet bin. Das macht mir keine Sorgen. Die Präsenz war immer auch Aufwand, ich musste dies pflegen. Es hat positive Seiten, wenn dies nicht mehr so stark ist.

Ist der Schritt zum Helvetia-Präsidium eine Art «Frühpensionierung» oder arbeiten Sie nur noch Teilzeit?

Ich gehe davon aus, dass ich weiterhin 100 Prozent arbeite. Mein Modell war: 30 Jahre ging ich zur Schule und hatte auch viele Freiheiten, dann habe ich 30 Jahre intensiv gearbeitet, und wenn es die Gesundheit erlaubt, kommen noch einmal 30 Jahre. Diese müssen auch noch gestaltet werden. Ich werde meine Zeit anders einteilen müssen, und natürlich werden nicht mehr die meisten Termine auf ein Jahr hinaus fixiert sein. Darauf freue ich mich.

Sieht man Sie auch wieder auf dem Fussballplatz?

Nur als Zuschauer, spielend eher nicht, so schnell bin ich nicht mehr (lacht). Aber ich werde mehr in der Natur sein, Ski fahren oder Golf spielen.

 

Pierin Vincenz (rechts) im Gespräch mit den cash-Redaktoren Ivo Ruch (links) und Marc Forster.

Dieses Interview ist Teil des am 8. September 2015 publizierten cash-Anlegermagazins «VALUE». Dort erfahren Sie unter anderem, wie Sie an der Börse richtig investieren, was eine Analystin den lieben langen Tag macht oder was Sie über die Vorsorge unbedingt wissen sollten.

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