Kann es sein, dass eine kleinere Automobil-Firma mehr wert ist als alle anderen Automobil-Konzerne zusammen? Was bedeutet es, dass die Zahl der Kleinanleger an der Börse steil nach oben steigt? Und was passiert da im Markt der Kryptowährungen?
Bei der aktuellen Entwicklung von Börsenkursen und Finanzmärkten ist es vielleicht an der Zeit, sich an Hyman P. Minsky zu erinnern. Der Ökonom, geboren 1919 in Chicago und verstorben 1996 in der Nähe von New York, wurde erst nach seinem Tod einem etwas breiteren Publikum bekannt: Denn in der Finanzkrise von 2007 und 2008 erkannte man, dass seine Modelle die dramatische Realität recht gut beschrieben hatten.
Und so fanden nun, mehr als zehn Jahre nach seinem Tod, Begriffe wie Minsky-Kollaps, Minsky-Meltdown und Minsky-Moment ihren Eingang in die allgemeinere Fachsprache. Ein «Minsky-Moment» beispielsweise tritt ein, wenn die Kurse an einem Finanzmarkt auf breiter Front und schlagartig zusammenbrechen.
Minsky: Stabilität führt zu Instabilität
Hyman Minsky hatte jahrelang erforscht, wie sich die Wirtschaft von einem stabilen Zustand immer wieder in chaotische Situationen begibt und wie dabei vernünftiges Verhalten nach und nach in spekulative Übertreibungen führt – und dann oft sogar in Abläufe, die einem Ponzi-Schema ähneln. «
"Stabilität führt zu Instabilität", so ein berühmtes Zitat von Minsky. "Je stabiler die Zustände werden und je länger die Lage stabil ist, desto unstabiler werden sie, wenn die Krise zuschlägt. Erfolg führt dazu, dass die Gefahr des Scheiterns unterschätzt wird."
In seinem Hauptwerk zum Thema, «Stabilizing an Unstable Economy», definierte Minsky 1986 fünf Phasen einer Spekulationsblase. Vielleicht hilft es jetzt zur Orientierung, sich diesen Zyklus mit seinen fünf Stufen wieder einmal zu Gemüte zu führen:
1. Verschiebung («Displacement»)
Die Anlegergemeinde entdeckt eine neue These (oder wie man heute gern sagt: ein neues "Narrativ"). Sie sichtet eine frische, andere Grundlage für einen Aufschwung – zum Beispiel die "Tigerstaaten, die Basis für die Asien-Bubble der 1990er. Oder die Digitalisierung, die Basis für die Dotcom-Blase. Oder Nullzinsen und Gratisgeld - was heute zur Idee führt, dass es kaum Alternativen zu Aktien gibt.
2. Boom
Nach der Verschiebung steigen die Preise beziehungsweise Kurse der passenden Anlagen zuerst langsam an. Doch je mehr Investoren das neue Paradigma erkennen und ihm folgen, desto eher entwickelt sich ein Boom. Dabei wird die neue Idee wiederum vermehrt auch in den Allgemeinmedien aufgegriffen. Es gibt erste spekulative Käufe, und in der Folge motiviert die bekannte "Fear of Missing Out" (FOMO) weitere Anleger zu einem entschiedeneren Einstieg.
3. Euphorie
Die Vorsicht lässt nach, die Kurse steigen steiler. Als weiterer Faktor spielt nun die "Greater Fool"-Idee hinein: Man kauft eine Aktie (oder ein Wertpapier oder einen Bitcoin oder eine Immobilie) nicht, weil man wirklich an ihren Wert glaubt – sondern nur noch, weil man darauf setzt, dass eine andere Person tatsächlich mehr zu zahlen bereit ist. Dies wiederum führt zu extremen Werten.
In der Dotcom-Blase sprangen Software- und "Cyber"-Firmen ohne den geringsten Umsatz auf Werte über einer Milliarde Dollar, vereinzelt auch in der Schweiz.
Zur Euphorie-Phase gehört auch, dass die Anhänger des Booms neue Regeln und Masstäbe verkünden oder setzen. Man bekommt zu hören, dass die alten Beurteilungskriterien jetzt nicht mehr gültig seien. So wurde in der Dotcom-Blase eine «New Economy» propagiert, in der so altmodische Faktoren wie Erträge und Rendite nicht zur Beurteilung eines Unternehmenswertes herangezogen werden dürften.
Anstieg – Boom – Euphorie – Gewinnmitnahmen und erster Abbruch – Panik: Verlauf des Technologie-Index Nasdaq100 in der Dotcom-Blase, Januar 1995 bis Januar 2005 (Quelle: Yahoo Finance).
4. Gewinnmitnahmen ("Profit Taking")
In einer späten Phase steigen zahlreiche neue Kleinanleger in den Markt ein; in der deutschen Börsensprache war früher auch die Rede von einer "Dienstmädchenhausse" oder "Hausfrauenhausse". Andererseits steigen erste informierte Anleger aus und streichen ihre Gewinne ein. Die alten Höhepunkte werden nicht mehr erreicht – oder wenn, dann nur kurz. Andererseits finden die Verkäufer bei ihren Gewinnmitnahmen doch noch jeweils Abnehmer, so dass kein sofortiger Einbruch erfolgt.
Einige Experten reden von "Konsolidierung" - was aber immer noch die Idee enthält, dass es danach wieder aufwärts gehen könnte.
5. Panik
Die Stimmung dreht – und kann schlagartig geschehen, ausgelöst durch eine einzelne Information. So wie die Kurse in der Euphorie-Phase exponentiell nach oben drehten, fallen sie nun nach unten – oft stürzen sie sogar noch steiler ab.
Denn der Prozess heizt sich selber an: Aktienspekulanten mit Libor-Krediten sehen sich mit "Margin Calls" konfrontiert. Oder der Wert von immer mehr Immobilien kippt unter die Belehnungsgrenze, so dass Hypothekarbanken nun Nachschüsse verlangen, was mehr und mehr Hausbesitzer zu Verkäufen zwingt, was wiederum die Preise nach unten treibt. Auf der Gegenseite ist jetzt auch die Nachfrage eingebrochen, so dass es plötzlich an Käufern fehlt.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei handelszeitung.ch unter dem Titel: «Die fünf Phasen einer Börsenblase»