Nach der Zerstörung des riesigen Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine haben sich die Regierungen in Kiew und Moskau gegenseitig die Schuld dafür zugewiesen. Russland habe den Damm am Fluss Dnipro gesprengt und damit ein Kriegsverbrechen begangen, erklärte die Ukraine. Russland wies dies scharf zurück und warf der Ukraine ihrerseits Sabotage vor. Beweise gab es zunächst von keiner Seite. Der Dammbruch, durch den Tausende Menschen von Überschwemmungen bedroht wurden, löste weithin Empörung aus: Er zeige die Brutalität des von Russland geführten Krieges in der Ukraine, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Laut der UN-Atomaufsicht IAEA bestand keine direkte Gefahr für das AKW Saporischschja, das Kühlwasser aus dem Dnipro (russisch Dnjepr) bezieht.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beschuldigte russischen Truppen, das zum Staudamm gehörende Kachowka-Wasserkraftwerk um 02.50 Uhr in der Nacht von innen heraus gesprengt zu haben. "Russische Terroristen", schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst Telegram. Die Zerstörung beweise der ganzen Welt nur, dass sie aus jedem Winkel der Ukraine vertrieben werden müssten. "Kein einziger Meter sollte ihnen bleiben, denn sie nutzen jeden Meter für Terror." Rund 80 Ortschaften befinden sich im Überschwemmungsgebiet, so Selenskyj.

Schogiu: Ukraine hat Staudamm gesprengt

Der ukrainische Innenminister Ihor Klymenko beschuldigte Russland, Bereiche anzugreifen, die gerade evakuiert würden. Dabei seien zwei Polizisten verletzt worden. Nach Darstellung des ukrainischen Militärs haben russische Truppen den Staudamm gesprengt, um die ukrainischen Streitkräfte an der Überquerung des Dnipro zu hindern. Die Armee werde sich aber nicht in ihrem Vormarsch aufhalten lassen, sagte Kommandeur Serhij Naew der staatlichen Nachrichtenagentur Ukrinform zufolge. "Das sollte unseren Vormarsch in die Richtungen, in denen es zu Überschwemmungen kommen kann, nicht verhindern."

Russland wies die Anschuldigungen, für die Zerstörung verantwortlich zu sein, entschieden zurück. Vielmehr beschuldigte Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Ukraine, den Kachowka-Damm gesprengt zu haben. Damit habe ein russischer Angriff auf die Region nahe Cherson verhindert werden sollen, heisst es in einer Erklärung seines Ministeriums. Gleichzeitig solle dadurch ermöglicht werden, dass die Ukraine "Einheiten und Material von der Front in Cherson in das Gebiet des Offensiv-Einsatzes" verlagere. Belege liefert Schoigu nicht.

Dnipro trennt russische und ukrainische Truppen

Der 1956 gebaute Damm liegt direkt bei Nowa Kachowka, die Stadt Kachowka befindet sich ein Stück weiter nordöstlich vom Damm entfernt. Das 30 Meter hohe und über drei Kilometer lange Bauwerk staute den Dnipro kurz vor der Mündung ins Schwarze Meer zum riesigen Kachowkaer Stausee, der wegen seiner Länge von 240 Kilometern und einer Breite von bis zu 23 Kilometern selbst wie ein Meer wirkt. Der Dnipro trennt die Gebiete, die vom russischen und ukrainischen Militär kontrolliert werden: Russland das linke Ufer im Osten, die Ukraine das rechte Ufer im Westen. Vom Damm bis Cherson sind es rund 85 Kilometer flussabwärts, bis zum Standort des AKW Saporischschja in Enerhodar etwa 150 Kilometer flussaufwärts.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) ging davon aus, dass es für die Kühlung des Atomkraftwerks Saporischschja ausreichend Wasser aus anderen Quellen als dem Kachowkaer Stausee mit seinem geborstenen Damm gibt. Zentral dafür sei das Kühlbecken beim AKW selbst, das unbedingt intakt bleiben müsse, erklärte die IAEA.

Die EU verurteilte die Zerstörung des Damms als ein weiteres Beispiel für die "barbarische Aggression" Russlands gegen die Ukraine und neues Zeichen der Eskalation. Der Angriff "stellt eine neue Dimension russischer Gräueltaten dar und könnte eine Verletzung des Völkerrechts, insbesondere des humanitären Völkerrechts, bedeuten", erklärte der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer "neuen Dimension" des Krieges. Man werde die Ukraine so lange unterstützen, wie dies nötig sei, bekräftigte Scholz. Das Kalkül von Russlands Präsident Wladimir Putin werde nicht aufgehen.

Unklarheit über Folgen für Wasserversorgung der Krim

Die Ukraine forderte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates sowie weitere Sanktionen gegen Russland, die insbesondere die russische Raketenindustrie und den Atombereich treffen sollten.

Laut dem von Russland installierten Bürgermeister von Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, steht die Stadt unter Wasser. Der Pegel sei auf elf Meter gestiegen. In dem gleichnamigen Bezirk wurde der Notstand ausgerufen, sagte Leontjew laut der Agentur Tass. Ihr zufolge teilten Rettungsdienste mit, rund 600 Häuser seien überflutet. In der Region Cherson sind nach Angaben der dortigen, von Russland eingesetzten Behörden rund 22.000 Menschen in 14 Ortschaften von Überschwemmungen bedroht. Das meldete die Nachrichtenagentur Ria.

Welche Auswirkungen der Dammbruch auf die Wasserversorgung der bereits 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim haben könnte, war zunächst unklar. Der Nord-Krim-Kanal versorgt die Krim mit Wasser und wird aus dem Kachowka-Stausee gespeist. Der russische Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow beschuldigte die Ukraine, den Damm zerstört zu haben, um die Krim von der Wasserversorgung abzuschneiden.

Eine unmittelbare Gefahr dafür gibt es laut dem Gouverneur der Krim, Sergej Axjonow, zunächst nicht. Er erklärte jedoch, der Wasserstand im Kanal könne noch fallen. Massnahmen liefen, um den Wasserverlust im Kanal zu minimieren. Die Ukraine hatte den Kanal nach der Annexion der Krim durch Russland blockiert, was zu einer akuten Wasserknappheit auf der Halbinsel führte. Diese endete, nachdem russische Truppen den Kanal im März 2022 unter ihre Kontrolle gebracht hatten.

(Reuters)