Angesichts einer US-Klagewelle gegen das deutsche Unternehmen wegen möglicher Krebsrisiken durch den Unkrautvernichter Roundup bemühen sich die Analysten, die Höhe der potenziellen Vergleichskosten zu berechnen. Das erfordert ein wenig Mathematik und viel Wahrsagerei - weshalb die Schätzungen von überschaubaren Summen bis hin zu Mammutbeträgen reichen.

Um zu seiner Schätzung zu gelangen, griff Tom Claps von Susquehanna Financial Group auch auf anderthalb Jahrzehnte Erfahrung aus seiner vorherigen Tätigkeit als Verteidiger in sogenannten Mass-Tort-Verfahren zurück. Alistair Campbell von Liberum Capital zog, wie die meisten Analysten, eine Handvoll wichtiger Urteile aus der Pharmaindustrie heran, die als Präzedenzfälle dienen können - und erhöhte die sich ergebenden Summen dann aus Gründen der Vorsicht. Viele bieten eher eine Reihe wahrscheinlicher Szenarien an, als einen einzigen Wert.

“Um die Wahrheit zu sagen, niemand weiß, wie der Vergleich ausfallen wird”, sagte Dennis Berzhanin, Analyst bei Pareto Securities in Frankfurt. Wichtig ist der Ausgang aber allemal. Der Job von Vorstandschef Werner Baumann könnte auf dem Spiel stehen, weil er der Architekt der Übernahme von Monsanto war, die Bayer das umstrittene Herbizid ins Haus brachte. Auch der Doppelfokus des Unternehmens auf Gesundheit und Agrarwirtschaft könnte gefährdet sein, nachdem der aktivistische Fonds Elliott Management Corp., der früher schon zu Aufspaltungen drängte, eine Beteiligung von 1,3 Milliarden Dollar erworben hat.

Aufgeblähte Schätzungen

Um die Verwirrung um die Vergleichssumme komplett zu machen, haben die Börsianer ihre eigene Meinung über die Kosten des Roundup-Debakels kundgetan, indem sie der Bayer-Aktie einen herben Rückschlag versetzten: Das Unternehmen hat seit der Übernahme von Monsanto rund 38 Milliarden Dollar an Wert verloren. Am Donnerstag gingen die Aktien in Frankfurt mit 0,6% im Minus aus dem Handel.

Nach Einschätzung von Claps, der Analyst für Rechts- und Regulierungsfragen bei Susquehanna in New York ist, sind aufgeblähte Vergleichsschätzungen zum Teil für den Kurseinbruch verantwortlich. Er rechnet mit einer Vergleichssumme in der Spanne von 2,5 bis 4,5 Milliarden Dollar. “Viele Investoren und Analysten nehmen eine sehr hohe Vergleichszahl in ihre Modell auf, weil sie den Mass-Tort-Prozess nicht vollständig verstehen”, sagte er in einem Telefoninterview. “Das hat dazu geführt, dass die Bayer-Aktie übermäßig abgestraft wurde.”

Was Bloomberg Intelligence sagt: “Der Vergleichswert der Verfahren könnte durchschnittlich 500.000$ pro Fall betragen, basierend auf vergleichbaren Mass-Tort-Einigungen, was bedeutet, dass die Gesamtzahlung etwa 6-7 Mrd $ betragen kann. Die Anzahl der Fälle hat sich seit Q2 2018 mehr als verdoppelt.”

Fall Johnson & Johnson 

Campbell von Liberum sieht das anders. Seine Aufgabe sei es, Anlegern einen Investment Case mit ausreichend Potenzial vorzustellen, um damit Geld zu verdienen, jedoch mit einem akzeptablen Risikoprofil, sagte er. Daher würde es ihm Bauchschmerzen bereiten, eine Zahl in das Modell einzubauen, die sich letztlich als zu niedrig erweisen könnte.

Nach einem Blick auf historische Präzedenzfälle - darunter die Einigung von Johnson & Johnson 2013 wegen seine ASR-Reihe künstlicher Hüften sowie den Fall der Pfizer Inc.-Tochter Wyeth, die mehr als 21 Milliarden Dollar zur Beilegung von Klagen über ihren Fen-Phen-Appetitzügler zahlte - schätzt Campbell, dass ein Roundup-Vergleich Bayer wahrscheinlich zwischen 180.000 Dollar und 422.000 Dollar pro Kläger kosten wird. Dann verdoppelte er grob seine Annahme und geht in seinem Modell nun von insgesamt 10 Milliarden Dollar aus.

“Es ist nicht so, dass ich wirklich davon ausgehe”, sagte er am Telefon. “Vielmehr gebe ich lieber etwas an, was ich für einen Maximalwert halte. Eigentlich nur, um auf der sicheren Seite zu sein.”

Frühere Zahlungen

Seit dem Zusammenschluss mit Monsanto wurden in den USA drei Roundup-Prozesse geführt, die Bayer allesamt verloren hat. Im Mai sprach eine Jury einem älteren Ehepaar, das das Herbizid benutzt hat, mehr als zwei Milliarden Dollar Schadenersatz zu. Der Betrag dürfte im Berufungsverfahren zwar nach unten korrigiert werden, doch die Anzahl der Kläger könnte über den derzeitigen Bayer-Stand von 13.400 hinaus ansteigen. Der nächste Prozess beginnt im August in St. Louis.

“Es macht einen großen Unterschied, ob Bayer zunächst einen der Fälle, oder das Berufungsverfahren gewinnt”, sagte David Evans, Analyst bei Kepler Cheuvreux in London.

Deshalb hat Evans drei verschiedene Szenarien entwickelt: Wenn Bayer alle anstehenden Rechtsstreitigkeiten gewinnen kann (eine geringe Wahrscheinlichkeit, merkte er an), würde die Zahlung sehr gering ausfallen. Sollte der Konzern aber weitere Schlappen vor Gericht erleiden, wären kolossale 20 Milliarden Dollar möglich. In seinem mittlerem Szenario geht Evans von einer Zahlung von etwa fünf Milliarden Dollar aus.

Fall Merck & Co. 

In einer ähnlichen Größenordung bewegt sich die Annahme von Pareto-Analyst Berzhanin mit etwa 4,5 Milliarden Dollar. Seine Berechnung basiert auf einem anderen pharmazeutischen Debakel, das fast jeder Analyst für nützlich hält, auch wenn es schon mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt: Merck & Co. ließ sich die Beilegung von 27.000 Klagen über das Schmerzmittel Vioxx, welches das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte erhöhte, insgesamt 4,85 Milliarden Dollar kosten. Das entsprach ungefähr 180.000 Dollar pro Kläger.

Es gibt Ähnlichkeiten. Im ersten Vioxx-Prozess sprach die Jury dem Kläger ungefähr die gleiche Summe zu wie im ersten Roundup-Fall. Und Merck zog John Beisner, einen hochkarätigen Anwalt, hinzu, um bei der Verteidigung zu helfen. Auch Bayer wandte sich im letzten Monat wegen Roundup an Beisner.

Berzhanin gesteht ein, dass der Vergleich hinkt. Anders als bei Vioxx sind die Gesundheitsrisiken von Roundup nicht belegt, und das Produkt wurde nicht vom Markt genommen. Bayer beharrt darauf, dass der aktive Wirkstoff von Roundup sicher ist - ebenso wie meisten Aufsichtsbehörden der Welt.

(Bloomberg)