Die Inflation in der Schweiz ist im Juni noch einmal deutlich gesunken. Sie liegt nun erstmals seit Januar 2022 unter der 2-Prozent-Marke. Konkret sank die Jahresinflation im Juni 2023 auf 1,7 von 2,2 Prozent im Mai. In den ersten beiden Monaten war sie noch wegen höherer Strom- und Flugpreise bis auf 3,4 Prozent angestiegen, seither geht es steil abwärts.

Die Kerninflation, welche die volatilen Güter wie Nahrungsmittel, Energie und Treibstoffe ausschliesst, sank auf 1,8 von 1,9 Prozent. Im Vergleich zum Vormonat stieg der Landesindex der Konsumentenpreise (CPI) um 0,1 Prozent auf 106,3 Punkte. Von AWP befragte Analysten hatten hier einen Wert zwischen 0,0 und +0,3 Prozent geschätzt.

Die von cash.ch befragten Ökonomen und Anlagestrategen erklären, was diese Entwicklung bei der Inflation für die Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank (SNB) bedeutet: 

David Marmet, Chefökonom Schweiz bei der Zürcher Kantonalbank:

“Im Vergleich zum Vorjahresmonat sank die Inflation von 2.2 Prozent im April auf 1.7 Prozent im Juni - und liegt nun bereits wieder im Zielband der SNB von 0 bis 2 Prozent. Die Schweizer Inflationsrate wird in den nächsten Monaten wohl nochmals niedriger ausfallen. Wir rechnen mit einem Rückgang auf 1,5 Prozent bis im August.

Diese niedrige Inflation ist indes nur temporärer Natur, ab Herbst 2023 wird sie wieder steigen. So werden die höheren Mieten ab November zum wichtigsten Treiber der Inflation - Grund: gestiegener hypothekarischer Referenzzinssatz, Umlegung eines Teils der aufgelaufenen Inflation und allgemeine Kostensteigerungen von pauschal 0,5 Prozent pro Jahr. Dass die Inflation steigt und wohl hartnäckig bleibt, ist jedoch nicht nur höheren Mieten geschuldet. Die Schweiz hat einen hohen Anteil von administrierten und halb-administrierten Preisen, die verzögert auf die Preismechanismen des Marktes reagieren. So dürften in nächster Zeit höhere Preise zum Beispiel bei den stationären Spitaldienstleistungen (August), beim SBB-Generalabonnement (Dezember) und beim Strom (Januar 2024) die Inflation wieder über die 2-Prozent-Marke steigen lassen. Zudem wird per 1. Januar 2024 die Mehrwertsteuer erhöht.

In ihrer jüngsten bedingten Inflationsprognose geht die SNB von einer durchschnittlichen Inflation von 2,2 Prozent im Jahr 2024 und einer solchen von 2,1 Prozent im Jahr 2025 aus. Damit liegt die Inflation mittelfristig knapp über dem oberen Ende des Toleranzbandes. In der im März veröffentlichten Prognose erwartete die SNB noch eine Inflation von 2 Prozent sowohl für 2024 als auch für 2025 – bei einem konstanten Leitzins von 1,5 Prozent. Der Bremseffekt durch die höheren Leitzinsen ist anscheinend noch ungenügend. Da sich die SNB auf den mittelfristigen Inflationsausblick fokussiert, drängt sich aus heutiger Sicht ein weiterer Zinsschritt auf. Wir gehen davon aus, dass die SNB im September einen weiteren Zinsschritt von 25 Basispunkten vornehmen wird.”

Matthias Geissbühler, Anlagechef Raiffeisen 

“Wir gehen unverändert davon aus, dass die SNB den Höhepunkt des Zinserhöhungszyklus im Gegensatz zur EZB und Fed erreicht hat und keine weiteren Leitzinserhöhungen anstehen. Der globale konjunkturelle Abschwung wird die Inflationsraten weiter drücken und da der nächste Zinstermin der SNB erst im September ansteht, nimmt der Handlungsdruck ab. Zudem bleibt der SNB die Möglichkeit, via Devisenmarkttransaktionen - in diesem Fall Devisenverkäufe - den Franken aufwerten zu lassen und so die importierte Inflation zu drücken.

Im Herbst wird die Headline-Inflation in der Schweiz aufgrund des Anstiegs der Mieten - Erhöhung des Referenzzinssatzes und Mieterhöhungen per Oktober - nochmals etwas anziehen, die Kernrate dürfte aber unter der 2-Prozent-Marke bleiben.”

Thomas Gitzel, Chefökonom VP Bank

“Das sieht jetzt wie eine ganz gewöhnliche Inflationsrate aus. Die Teuerungsrate hat ihren Ausflug nach oben beendet. Die im Jahresvergleich günstigeren Energiepreise machen sich weiterhin deutlich positiv bemerkbar. Auf der anderen Seite sind Lebensmittel fortgesetzt der zentrale Teuerungstreiber. Erfreulich ist, dass auch die Kerninflationsrate, also die Inflationsrate unter Herausrechnung der volatilen Energie- und Nahrungsmittelpreise,  weiter sinkt.

Vorausschauend verbleibt vor allem die Mietpreisentwicklung als Inflationsrisiko. Im Herbst werden die Mietzinsen steigen, was wiederum negativen Einfluss auf die Inflationsrate hat. Da aber gleichzeitig dämpfende Basiseffekte aufgrund des deutlichen Anstiegs der Lebensmittelpreise im Vorjahr wirksam werden, gibt es auf der anderen Seite auch kompensatorische Effekte. Kurzum: Auch wenn die Mieten anziehen, ist die Gefahr eines neuerlichen deutlichen Inflationsanstiegs nicht gegeben. Im kommenden Jahr dürften die Inflationsraten bereits schon wieder im Bereich des Wohlfühlniveaus der SNB von etwas über 1 Prozent liegen.

Die SNB wird im September nochmals den Leitzins um 25 Basispunkte erhöhen. Eine neuerliche geldpolitische Straffung gilt als in Stein gemeisselt. Die SNB gibt für ihre Verhältnisse hierzu eine relativ klare Orientierung. In der Medienmitteilung zur geldpolitischen Lagebeurteilung heisst es: 'Es ist nicht auszuschliessen, dass zusätzliche Zinserhöhungen nötig sein werden, um die Preisstabilität in der mittleren Frist zu gewährleisten.' Mit der zu erwartenden Erhöhung im September um 25 Basispunkte liegt der Leitzins dann bei 2 Prozent und damit über der Inflationsrate. Mit einem positiven realen Leitzins dürfte die SNB restriktiv genug sein, um von weiteren Zinserhöhungen abzusehen.”

Daniel Hartmann, Chefökonom beim Vermögensverwalter Bantleon

“Wir rechnen noch mit einer Leitzinsanhebung der SNB um 25 Basispunkte im September auf  2 Prozent. Diese hat Notenbankpräsident Thomas Jordan ja praktisch schon angekündigt. Ausserdem wird ab Oktober die Teuerungsrate aufgrund der absehbaren Mietpreissteigerungen wieder ansteigen. Wir gehen davon aus, dass Letzteres einen Effekt von bis zu einem Prozentpunkt auf die Inflationsrate hat und die Teuerungsrate somit wieder über 2,0 Prozent steigt. Damit könnte man eine weitere geldpolitische Straffung rechtfertigen. Allerdings beisst sich die Katze damit in den Schwanz. Die Notenbank heizt mithin durch die eigene Politik die Inflation an, weil bei den Mietpreissteigerungen der Referenzzinssatz die entscheidende Rolle spielt. Eigentlich müssten die Mietpreise daher bei der Inflationsprognose herausgerechnet werden. Wenn man das macht, sind 2024 keine ernsthaften Inflationsgefahren in Sicht, sprich die Teuerungsrate ex Mieten dürfte deutlich unter 2,0 Prozent liegen.

Im Ergebnis müsste die SNB die Geldpolitik eigentlich nicht weiter straffen. Mit einer nochmaligen Leitzinsanhebung unterstreicht sie aber ihre Glaubwürdigkeit bei der Inflationsbekämpfung. Ausserdem ist dies ein gewisser Tribut an die anderen Notenbanken – der Abstand zu den EZB-Leitzinssätzen darf mithin nicht zu gross werden. Am Jahresende rechnen wir dann aber mit keiner weiteren Leitzinsanhebung mehr. Wir gehen davon aus, dass es zu einer globalen Rezession kommen wird und in diesem Zuge eine weltweite Trendwende in der Geldpolitik einsetzt. 2024 werden die Notenbanken nicht mehr über Leitzinserhöhungen, sondern über Leitzinssenkungen debattieren.”

Daniel Kalt, Chefökonom und Anlagechef UBS Schweiz

“Die Teuerung ist zwar im Juni, vor allem aufgrund starker Basis-Effekte bei den Energiepreisen, deutlich gefallen. Allerdings dürfte sie gegen Ende Jahr wieder leicht über zwei Prozent ansteigen, insbesondere weil steigende Mieten die Inflation wieder anheizen und die Basis-Effekte wegfallen werden. Die SNB sieht in ihrer bedingten Inflationsprognose im Jahr 2024 die Teuerung ebenfalls wieder über zwei Prozent ansteigen. Wir rechnen daher mit einer weiteren, voraussichtlich letzten Leitzinserhöhung auf zwei Prozent im September.”

Karsten Junius, Chefökonom Bank J. Safra Sarasin

“Der Schweizer Konsumentenpreisindex lag deutlich unter den Markterwartungen, da der Preisdruck auf einer sehr breiten Basis nachliess. Auf der Warenseite glichen sinkende Preise für importierte Güter den Anstieg der im Inland produzierten Waren um 0,2 Prozent im Monat aus. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Preise für Dienstleistungen - die auf eine Lohn-Preis-Spirale hindeuten würden - sowohl im Monats- als auch im Jahresvergleich sehr niedrig sind.

Die Schweiz ist das erste Währungsgebiet, in dem sowohl die Gesamtinflationsrate als auch die Kerninflationsrate wieder im Zielbereich der Zentralbank liegen. Die heutigen Daten werden die Einschätzung der SNB nicht wesentlich verändern, da sich wichtige Preiskomponenten in den kommenden Quartalen erhöhen dürften. Eine davon sind Mieten, die im vierten Quartal rund einen Viertelprozentpunkt zur Gesamtinflation beitragen könnten, das andere sind die Strompreise, die zu Beginn des nächsten Jahres ebenfalls einen weiteren Viertelprozentpunkt hinzufügen könnten. Damit bleibt die Gefahr, dass sich die Inflationsraten wieder ansteigen und sich auf einem zu hohen Niveau festsetzen. Es wird daher trotz der heutigen Daten wahrscheinlicher, dass die SNB ihren Leitzins im September auf 2 Prozent anheben wird.”

Caroline Hilb, Leiterin Anlagestrategie und Analyse bei der St. Galler Kantonalbank

“Ich erwarte eine weitere Zinserhöhung durch die SNB und finde einen weiteren Zinsschritt auch nach den neusten Inflationsdaten nicht überflüssig. Es ist wichtig, dass der Realzins wieder positiv ist. Ebenfalls sollte die SNB das Umfeld und die Akzeptanz für höhere Zinsen nutzen, um sich eine Art ‘Zinsreserve’ zu schaffen. Ich erwarte im September eine weitere Zinserhöhung um 0,25 Prozentpunkte und danach stabile Leitzinsen bis 2024.”
 

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