Ein politischer Machtkampf in der Türkei könnte am Montag seinen Höhepunkt erreichen, wenn ein Gerichtsurteil nicht nur die Existenz der grössten Oppositionspartei bedroht, sondern auch die Zukunft der Demokratie in dem Land mit 85 Millionen Einwohnern. Der Fall ist Teil einer breiten, beispiellosen Kampagne gegen Oppositionspolitiker, die nach eigenen Angaben von Präsident Recep Tayyip Erdoğan betrieben wird, um seine mehr als 20-jährige Herrschaft zu verlängern.

Die wachsenden Spannungen und die massiven Proteste – am Sonntag gingen Zehntausende Menschen auf die Strasse – haben die Finanzmärkte bereits verunsichert. Türkische Aktien liegen seit Monatsbeginn in Dollar gerechnet mehr als 8 Prozent im Minus und gehören damit weltweit zu den schwächsten Märkten nach Argentinien. Auch die Lira-Anleihen der Regierung sind unter Druck geraten. Ein weiterer Ausverkauf droht, sollte die Justiz – die Erdoğan und seine AKP als unabhängig darstellen – die Wahl des Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP) von 2023 für ungültig erklären.

Der Fall in Ankara – einer von vielen gegen die CHP und ihre führenden Mitglieder – ist komplex, und eine Entscheidung könnte erst später am Montag fallen. Mehrere Szenarien sind möglich:

1. Gericht annulliert den CHP-Parteitag 2023 und setzt den früheren Vorsitzenden wieder ein

Dies gilt als eines der wahrscheinlichsten Szenarien – und für ausländische Investoren als das riskanteste. Es könnte zu neuen Protesten in Istanbul und anderen Städten kommen. CHP-Chef Özgür Özel, ein Verbündeter des inhaftierten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, müsste zurücktreten. Eine Rückkehr von Kemal Kılıçdaroğlu, der die Partei 13 Jahre lang ohne grossen Wahlerfolg führte, würde die Bemühungen um İmamoğlus Freilassung wahrscheinlich blockieren. Die Partei, die bei den Kommunalwahlen im Vorjahr deutliche Zugewinne verbuchte, stünde vor einem Rückschlag.
Kılıçdaroğlu könnte die Einberufung eines neuen Parteitags über Monate oder Jahre hinauszögern und so seine Machtbasis festigen.

«Das eigentliche Risiko liegt in einer weiteren Erosion der politischen Institutionen der Türkei», sagte Erik Meyersson, Chefstratege für Schwellenländer bei der schwedischen SEB-Bank. «Die Türkei riskiert weniger Innovation, stärkere Abwanderung von Fachkräften und setzt damit den Verlust mehrerer Jahrzehnte wirtschaftlicher Entwicklung fort.»

Ein solches Urteil könnte die Lira unter Druck setzen, wenn die Bevölkerung in den Dollar flüchtet. Erdoğan könnte die Spaltung der CHP zudem nutzen, um vorgezogene Neuwahlen auszurufen und im Vorfeld die Ausgaben zu erhöhen, so Gordon Bowers, Analyst bei Columbia Threadneedle Investments in London. Das würde die Bemühungen der Zentralbank erschweren, die Inflation in den kommenden Monaten unter 30 Prozent zu drücken.

2. Gericht annulliert den Parteitag und setzt einen Treuhänder ein

In diesem Fall würde der Parteitag 2023 für ungültig erklärt, die CHP aber vorübergehend von einem Treuhänder geführt. Dieser müsste binnen 45 Tagen eine neue Wahl organisieren, sodass Özel die Chance hätte, erneut gewählt zu werden. Die Partei wäre kurzfristig geschwächt, doch die Märkte sähen dies als weniger riskant an als eine Rückkehr Kılıçdaroğlus.

3. Der Fall wird vertagt

Dies würde der CHP und den Märkten vorerst Erleichterung verschaffen, allerdings nur auf Zeit. Kurzfristige Anleger, etwa Carry Trader, würden sich weiterhin von den fast 40 Prozent Zinsen auf türkische Lira-Anleihen anziehen lassen. Doch anhaltende politische Unsicherheit dürfte viele Investoren von langfristigem Engagement in die 1,4-Billionen-Dollar-Volkswirtschaft abhalten.

4. Der Fall wird eingestellt

Dieses Szenario gilt unter Analysten als wenig wahrscheinlich. Eine Einstellung würde ein Nachlassen des Drucks auf die CHP signalisieren und die Märkte beflügeln. Özel könnte den Ausgang nutzen, um Erdoğan zu vorgezogenen Wahlen zu drängen. Regulär stünden diese erst 2028 an. Zwar darf Erdoğan laut Verfassung nicht erneut kandidieren, könnte dies aber tun, wenn Neuwahlen vorgezogen würden. Özel erklärte kürzlich in einem Interview mit Bloomberg, er strebe einen Urnengang Ende 2025 oder Anfang kommenden Jahres an.

(Bloomberg)