Beginnend in den Nullerjahren lief Berlin in der deutschen Start-up-Szene zunehmend München den Rang als New-Economy-Hochburg ab. Ein Grund für den Sog der Hauptstadt war, dass die von den Start-ups gesuchten Spezialisten dort und nirgendwo anders hin wollten. Es lockte das von Ex-Bürgermeister Klaus Wowereit unsterblich gemachte Image als "arm, aber sexy", und dazu gehörte das scheinbar unerschöpfliche Reservoir an billigem Wohnraum in Ost- und West-Berliner Szenevierteln.

Inzwischen gilt am Berliner Wohnungsmarkt eher "teuer, oder schon vergeben". Die jüngste Generation von neu zugezogenen Techies muss einsehen, dass sie nehmen muss was sie kriegen kann, auch wenn das heisst, den Traum vom Mitte-Hipster-Leben beerdigen zu müssen. Für die Start-ups bedeutet das auch, dass sie im Kampf um Spitzenkräfte einen wichtigen, vielleicht den wichtigsten Wettbewerbsvorteil teilweise verloren haben, den sie gegenüber notorisch überteuerten Standorten wie London, Paris oder dem Silicon Valley hatten. Der erschwingliche, coole Lebensstil, der Berlin zur drittgrössten Tech-Hochburg in Europa gemacht hat, ist perdu.

Statt wie früher in kürzester Zeit eine Wohnung zu finden, sitzen Neuankömmlinge in Berlin oft monatelang in Übergangswohnungen fest. Manche sind gezwungen, Pendelzeiten Londoner Dimensionen zu akzeptieren. Nicht wenige geben entnervt auf und verlassen die Stadt wieder. Dabei ist — anders als für viele Einheimische — für die gut bezahlten Programmierer die Miethöhe gar nicht mal das Hauptproblem: es gibt einfach nichts auf dem leergefegten Markt.

"Für die Tech-Community ist das Problem die Verfügbarkeit", sagt Johannes Reck, Geschäftsführer des in Berlin ansässigen Reise-Start-ups GetYourGuide. "Es gibt einfach nicht genug Wohnraum."

100'000 Wohnungen fehlen

Nachdem selbst für die gutverdienenden Neu-Berliner die Wohnungsfrage ein Problem darstellt, ist sie für die Bevölkerung mit Durchschnittssalär schon längst zum Polit-Thema Nummer Eins mutiert. Experten schätzen, dass in der Stadt über 100'000 Wohnungen fehlen. Wie schon die letzte Wahl zum Abgeordnetenhaus dominiert sie auch deren Wiederholung am morgigen Sonntag, die wegen des Wahlchaos im September 2021 gerichtlich erzwungen wurde.

Die zu erwartende Niederlage der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey ist nicht zuletzt auch auf die enttäuschenden Antworten ihrer SPD und der mitregierenden Grünen und Linken zurückzuführen. Die letzten Umfragen vor dem Urnengang sahen die CDU mit sechs Prozentpunkten in Führung — ein Rückschlag auch für Bundeskanzler Olaf Scholz.

Das Versprechen, 20'000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen, hat Giffeys Regierung nicht eingelöst. Die tatsächlich gebauten Wohnungen liegen mit 22 Euro Quadratmetermiete weit über dem, was sich Normalverdiener leisten können. Die Bürgermeisterin ignorierte auch einen mit grosser Mehrheit unterstützten Volksentscheid, der das Rote Rathaus auffordert, Grossvermieter zu enteignen, um den Bestand an Sozialwohnungen zu erhöhen.

"Jetzt sagt Giffey, dass sie die Vergesellschaftung nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren kann", sagt Karla Hildebrandt von der Kampagne Deutsche Wohnen Enteignen, die den Volksentscheid angestossen hatte. "Die Umsetzung ist allerdings keine Gewissensentscheidung, sondern ein demokratischer Auftrag." Deutsche Wohnen hält allerdings auch von der vor allem auf Neubau ausgerichteten Wohnbaupolitik des wahrscheinlichen Wahlsiegers nichts, weil diese nur den Bau teurer Eigentumswohnungen fördere.

Die Techies, die jetzt selbst unter der Wohnungsnot leiden, haben dabei zur Entstehung des Problems mit beigetragen, da der Sektor Tausende von Softwareentwicklern und Ingenieuren mit Gehältern weit über dem Durchschnitt in die Stadt lockte. Seit Mitte der 2000er Jahre, als der Boom in Berlin richtig losging, ist die Bevölkerung um mehr als 300'000 Menschen gewachsen und die Mieten haben sich mehr als verdoppelt.

Für Tech-Unternehmen ein ungünstiger Zeitpunkt

Für Tech-Unternehmen ist es ein ungünstiger Zeitpunkt, einen Wettbewerbsvorteil einzubüssen. Der wirtschaftliche Abschwung erhöht ohnehin schon den Druck auf die Berliner Start-ups, ihren Fokus auf den Gewinn zu richten. Jetzt verteuert die Wohnungsnot auch noch die Personalbeschaffung. In den letzten Monaten haben Berliner Unternehmen wie Delivery Hero, das Fintech Trade Republic und SoundCloud Stellen abgebaut, um Kosten zu senken.

Ines Ben Messaoud kennt die Schwierigkeiten eines Umzugs nach Berlin aus erster Hand. Die gebürtige Tunesierin zog für einen Job als Ingenieurin bei dem Fintech Billie GmbH in die Hauptstadt. Ihr Arbeitgeber steckte sie in eine Übergangswohnung, in der sie seit ihrer Ankunft im September lebt.

"Mir wurde gesagt, ich solle nicht damit rechnen, so einfach eine Wohnung zu bekommen, und das nehmen, was vielleicht gerade noch in Ordnung ist", sagte sie. "Es ist gar nicht so einfach, etwas zu finden, das dem eigenen Budget und den eigenen Vorstellungen entspricht."

Während Messaoud die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, sind zwei ihrer indischen Kollegen in Leipzig gelandet. Sie arbeiten hauptsächlich im Homeoffice und pendeln gelegentlich in die Berliner Zentrale — anderthalb Stunden in jede Richtung.

"Das bedeutet für sie viel Stress", sagt Anja Stadeler, Billies Personalchefin. "Sie kommen in ein neues Land, zu einem neuen Arbeitgeber, und dann muss man auch das noch nebenbei bewältigen." Billie hat die Regeln für Reisespesen angepasst, weil immer mehr der Mitarbeiter — ursprünglich aus 45 Ländern — ausserhalb der Stadtgrenzen leben.

Übergangswohnungen verschärfen Problem

Wohnen auf Zeit ist zu einem gängigen Phänomen beim Umzug in die Hauptstadt geworden. Nach Angaben von Expath, einem Berliner Relocation Service, nutzen Zuzügler heute für etwa ein halbes Jahr Übergangswohnungen, fast doppelt so lange wie noch vor zwei Jahren. Und diese Nachfrage verknappt das Angebot weiter und verschärft den Preisdruck nach oben, denn Vermieter können für möblierte, befristete Wohnungen leicht das doppelte verlangen, sagt Expath-Chefin Tia Robinson.

Trotz der Wohnungsnot hat die Berliner Startup-Szene eine kritische Masse erreicht, die es ihr weiterhin erlaubt, Kapital anzulocken. Erfolgsgeschichten wie Zalando helfen dabei. Vor dem Abschwung des Investitionsklimas im letzten Jahr lag Berlin mit 10,8 Milliarden Dollar an Investitionen in Tech-Startups im europäischen Vergleich nur hinter London. "Wir sind heute sicherlich eher ein Ökosystem, das mit London, New York und San Francisco mithalten kann", so Reck von GetYourGuide.

Auch wenn das Leben in Berlin nicht mehr so günstig ist wie früher, liegen die Lebenshaltungskosten doch noch unter denen der anderen Tech-Zentren. Ausserdem hat die Stadt den Tech-Arbeitern andere Vorteile zu bieten wie das deutsche Sozialsystem und Arbeitsrecht. Angesichts der jüngsten Stellenstreichungen bei Unternehmen wie Microsoft, Meta und Amazon.com wird dies laut Vanessa Stock, Leiterin der Personalabteilung der Pitch Software GmbH, in Zeiten wie diesen durchaus geschätzt.

Klar ist jedenfalls, dass die Berliner Start-up-Szene zum Teil auch ein Opfer des eigenen Erfolgs ist, sagt Claudia Langer von Localyze, einem weiteren Relocation Service. "Es war natürlich besser, als es günstiger war, aber leider auch unrealistisch."

(Bloomberg)