cash.ch: Herr Junius, Sie haben festgestellt, dass der US-Dollar und die Zinsen von US-Staatsanleihen nicht mehr miteinander einhergehen - nun fällt der Dollar, während die US-Zinsen erhöht bleiben. Was ist der Grund?

Karsten Junius: Aktuell werden bei US-Staatsanleihen Risikoprämien eingepreist. Das war früher nie so - amerikanische Staatsobligationen galten als eine der sichersten Anlagen überhaupt. Wenn ihre Renditen stiegen, hielt man sie für attraktiver und hat zugleich Dollar gekauft, damit man investieren konnte. Dieser Zusammenhang ist seit dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident zusammengebrochen. Nun sehen wir, dass Risikoprämien die Renditen von US-Staatsanleihen hoch halten und dass der Dollar schwächer wird, weil Anleger sich aus Investments in den Vereinigten Staaten zurückziehen. Sie schützen sich vor der neu entstandenen politischen Unsicherheit.

Wie beurteilen Sie den Druck von US-Präsident Donald Trump auf die amerikanische Notenbank (Fed)?

Der Druck auf die Federal Reserve, sie ihrer Unabhängigkeit zu berauben, ist kontraproduktiv. Die US-Notenbank profitiert im Moment noch von einer hohen Glaubwürdigkeit. Deshalb sind die Inflationserwartungen stabil. Das ist enorm viel Geld wert. Denn bei stabilen Inflationserwartungen braucht es nach einem Inflationsschock, wie wir ihn nach der Pandemie oder mit dem Ukraine-Krieg erlebt haben, keine derart starken Zinserhöhungen. Wenn die Glaubwürdigkeit der Notenbank erodiert und die Inflationserwartungen steigen, kann eine anziehende Inflation nur mit überaus grossen Zinsschritten wieder zurückgebunden werden.

Trotzdem: Der US-Aktienmarkt steht auf Rekordhoch, der Dollar hat sich jüngst nicht weiter abgewertet. Was ist der Reim darauf?

Nun, der Boom der Künstlichen Intelligenz findet vor allem in den USA statt. Die grossen Technologieunternehmen investieren enorme Summen, zum Beispiel in Rechenzentren. Das schiebt das Wachstum an und verhindert, dass die Vereinigten Staaten und mit diesen die Weltwirtschaft in eine Rezession fallen. Zudem schreiben die US-Unternehmen hohe Gewinne. Das ist übrigens auch der Unterschied zur Dotcom-Blase der 2000er-Jahre. Die hohe Bewertung des US-Aktienmarktes ist zwar besorgniserregend, ist wegen der satten Unternehmensgewinne aber verständlich.

In den nächsten Tagen erscheinen die US-Arbeitsmarkt- und die US-Inflationsdaten. Mitte September folgt der nächste Fed-Zinsentscheid. Womit rechnen Sie?

Wir werden eine Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte bekommen - so, wie der Markt es bereits überwiegend vorwegnimmt und die Fed es signalisiert hat. Dieser Zinsschritt hängt aber an einem seidenen Faden. Wenn die Arbeitsmarktdaten überraschend positiv oder die Inflationsdaten unerwartet negativ ausfallen, dürfte sich die US-Notenbank zurückhalten.

Wie ist das Risiko, dass die Konjunkturdaten so unerwartet ausfallen, dass eine Zinssenkung unwahrscheinlicher wird?

Die Inflation verhält sich in der Regel eher, wie es prognostiziert wird. Die US-Jobdaten haben immer mal wieder überrascht und werden auch regelmässig revidiert. Darum würde ich hier keine Prognose stellen.

Die Schweizerische Nationalbank (SNB) wird ebenfalls im September den nächsten Zinsentscheid fällen. Wovon gehen Sie aus?

Die SNB ist absolut gut aufgestellt. Sie fährt seit Dezember 2024 eine expansive Geldpolitik und unterstützt damit die Wirtschaft. Das wird den Unternehmen in den nächsten Quartalen helfen. Darum ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht keine Zinssenkung im September angezeigt. Auch aus Inflationssicht braucht es einen tieferen Leitzins momentan nicht. Die Teuerungen hat zuletzt nach oben überrascht und wird mittelfristig im Zielband der SNB verbleiben. Deshalb werden wir länger als manche am Kapitalmarkt glauben, beim Leitzins von 0 Prozent bleiben - nämlich noch mindestens das ganze nächste Jahr.

Unter welchen Umständen werden wir im Dezember den Schritt der SNB in die Negativzinsen erleben?

Wenn die SNB die Zinsen senkt, dann um 0,50 und nicht um 0,25 Prozentpunkte. Einen solchen Zinsschritt wird die Nationalbank dann tun, wenn die Wirtschaft stärker leidet als gegenwärtig absehbar, wenn Investitionen und der Konsum zurückgehen.

Sie gehen also von keinem oder dann von einem grossen Zinsschritt aus. Können Sie noch genauer erklären, warum?

SNB-Präsident Martin Schlegel hat klar gesagt, dass niemand Negativzinsen mag, auch die Nationalbank nicht, dass Negativzinsen unpopulär sind und dass sie unerwünschte Nebeneffekte haben. Deswegen sind jetzt die Hürden für Minuszinsen hoch. Die SNB wird deshalb abwarten - bis die Notwendigkeit zum Handeln so gross ist, dass nur ein Schritt um 0,50 Prozentpunkte nach unten Sinn ergibt.

Nehmen Sie Unterschiede in der Kommunikation zwischen dem aktuellen SNB-Präsidenten, Martin Schlegel, und seinem Vorgänger, Thomas Jordan, wahr?

Beide sind beziehungsweise waren stets extrem gut vorbereitet. Die beiden sind aber auch unterschiedliche Persönlichkeiten. Bei Präsident Schlegel wird sich die Kommunikation wohl noch einschleifen müssen. Im Moment argumentiert er weniger ökonomisch als sein Vorgänger Jordan.

Die US-Zölle auf Schweizer Güter dürften die Schweizer Wirtschaft belasten. Inwiefern würde nicht dies für eine baldige SNB-Zinssenkung sprechen?

Es stimmt, die Zölle sind eine Belastung. Doch wir müssen sie angemessen einordnen. Fast zwei Drittel der Schweizer Exporte sind von den Zöllen ausgenommen - nämlich Pharma und Chemie. Alles in allem sind lediglich knapp 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts durch die Zollschranken erfasst. Diesen Teil trifft es natürlich hart, er ist aber verhältnismässig klein. Die SNB hat sich, indem sie eine expansive Geldpolitik eingeschlagen hat, schon gut vorbereitet. Nun sollte sie vorerst nur beobachten.

Gibt es einen Anlass oder eine Möglichkeit zu Devisenmarktinterventionen?

Der Schweizer Franken ist tatsächlich hoch bewertet. Dazu hat vor allem der Kursrückgang des US-Dollars geführt. Das aber betrifft andere Währungen auch. Es ist ein globaler Trend. Die Schweiz sollte sich nicht dagegen stemmen. Denn sie kann es nicht. Zudem wäre es politisch nicht opportun, gegen den US-Dollar zu intervenieren. Die Verhandlungen zwischen Bern und Washington zu den Zöllen laufen ja. Und letztlich: Der US-Dollar ist nach wie vor überbewertet, und es gibt keinen Grund, weshalb die SNB eine Währung kaufen soll, die in den kommenden Quartalen und Jahren an Wert verlieren wird.

Was sagen Sie für die Entwicklung des Franken gegenüber dem Dollar und dem Euro voraus?

Den Dollar sehen wir Ende 2025 bei 77 Rappen und Ende 2026 bei 73 Rappen. Den Euro sehen wir zum Jahresende bei 92 Rappen und 2026 bei 91 Rappen.

Wie begründen Sie diese Prognose?

Der Dollar wird weiter abwerten, da viele ausländische Investoren wegen der US-Politik zusehends Vertrauen verlieren in die Stabilität der US-Währung. Gegenüber dem Euro wird der Franken aufgrund des Inflationsunterschieds zwischen der Eurozone und der Schweiz stärker. Jedoch wird der Fiskalimpuls, vor allem in Deutschland, einen Wachstumsschub in Europa auslösen, der die Gemeinschaftswährung stützt.

Welche Schlüsse können Anleger aus der aktuellen Lage und der absehbaren Entwicklung ziehen?

Anleger sollten investiert bleiben und sich nicht durch die politische Unsicherheit abschrecken lassen. Sie sollten aber auch nicht den Kursen hinterherlaufen und übermässig viel Risiko eingehen. Ein starkes Gewicht des Aktienmarktes ist jedenfalls angemessen. Denn die Wirtschaft läuft, die Gewinne fliessen. Dabei gibt es durchaus günstig bewertete Märkte ausserhalb der USA - gerade vor unserer Haustüre ist einer: Der Schweizer Aktienmarkt. Er hat Nachholpotenzial. Gleiches gilt für andere europäische Aktienmärkte. Sie sind Sektor für Sektor günstiger bewertet als der amerikanische Aktienmarkt - und dürften durch den zyklischen Aufschwung im nächsten Jahr zusätzliche Impulse erhalten. Das ist eine - zu recht - erfreuliche Story.

Karsten Junius ist seit April 2014 Chefökonom der Bank J. Safra Sarasin. Zuvor arbeitete er beim Internationalen Währungsfonds in Washington sowie für die DekaBank in Frankfurt. Junius hält einen Doktortitel in Ökonomie der Universität Kiel und einen Mastertitel der Wayne State University.

Reto Zanettin
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