Wenn der Ölpreis in kurzer Zeit stark steigt, bricht schnell so etwas wie Panik an den Märkten aus. Immerhin gilt der Preis für das schwarze Gold als der mit Abstand wichtigste Einzelpreis der Welt und als solcher treibt er Analysten und Investoren regelmässig an den Rand der Verzweiflung. Seit Beginn des Jahres kletterten die Notierungen zeitweise um bis zu 40 Prozent in die Höhe. "Der Ölpreis ist seit Januar gestiegen, weil sich aufgrund der Interventionen der amerikanischen Notenbank Fed und anderer Notenbanken die Perspektiven für die globale Konjunktur langsam, aber sicher stabilisieren", urteilt Anastassios Frangulidis, Chefstratege der Bank Pictet. Öl ist der Schmierstoff der Weltwirtschaft und wenn diese boomt, wird mehr Öl benötigt und der Preis steigt.
Insgesamt sei die Nachfrageseite intakt, sagt auch Fabien Weber von GAM. "Im zweiten und dritten Quartal des Jahres wird die Nachfrage nach Öl zudem saisonbedingt aufgrund höherer Mobilität und von mehr Logistikbewegungen noch weiter steigen", so der GAM-Rohstoffexperte. Immerhin werden 60 Prozent der gesamten Nachfrage nach Öl vom globalen Transportsektor absorbiert.
70 bis 75 Dollar pro Fass, Sorte Brent
Frangulidis geht davon aus, dass sich der Ölpreis in diesem Jahr auf einem Band zwischen 70 und 75 Dollar pro Barrel der Sorte Brent einpendeln wird, sofern es keinen Rückschlag im globalen Handel gebe. "Wenn die USA und China eine Einigung erzielen und sich die globale konjunkturelle Erholung fortsetzt, sollte sich der Ölpreis im Verlauf des Jahres auf dem Niveau einpendeln, welches wir vor Einsetzen der geopolitischen und konjunkturellen Unsicherheiten Ende letzten Jahres gesehen haben", so der Volkswirt.
Für ihn und andere Analysten ist dies das wahrscheinlichste Szenario. Eine Eskalation des Handelskrieges zwischen den USA und China schliessen die meisten Auguren aus, da sie davon ausgehen, dass US-Präsident Donald Trump angesichts der 2020 anstehenden Präsidentschaftswahlen keine konjunkturellen Risiken für die USA provozieren möchte.
Der Ölpreis ist von Natur aus sehr volatil – eben weil es so viele Einflussfaktoren gibt und weil das Angebot begrenzt und nicht sehr elastisch ist. Zwar ist gerne die Rede davon, dass der eine oder andere Ölexporteur den Hahn aufoder zudreht, aber dieses Bild vermittelt einen irreführenden Eindruck von der Schnelligkeit, mit der die Produktion gedrosselt oder erhöht werden kann.
Für den Preisanstieg um fast einen Drittel in den ersten Monaten des Jahres bis zum vorläufigen Jahreshöchst am 25. April ist nebst den nachfrageinduzierten Faktoren auch eine künstliche Angebotsverknappung von vier verschiedenen Seiten ursächlich: erstens die im Streit um das iranische Atomprogramm im November 2018 von den USA über Iran verhängten und im Mai 2019 verschärften Sanktionen. Deren Ziel ist es, die iranischen Ölexporte auf null zu reduzieren, und strafen jene Länder ab, die weiterhin Öl aus Iran, immerhin dem Land mit den viertgrössten Ölreserven der Welt, beziehen.
Waren zunächst acht Länder von diesen Sanktionen ausgeschlossen – darunter China als weltweit grösster Importeur von Rohöl und die Türkei, zwei der wichtigsten Käufer des iranischen Öls –, gelten seit Mai keine Ausnahmen mehr; die USA Waren zunächst acht Länder von diesen Sanktionen ausgeschlossen – darunter China als weltweit grösster Importeur von Rohöl und die Türkei, zwei der wichtigsten Käufer des iranischen Öls –, gelten seit Mai keine Ausnahmen mehr; die USA drohen nun auch diesen Ländern mit Sanktionen. Dass dieser geopolitische Machtkampf noch nicht zu Ende ist, unterstreicht Trump aktuell mit der Entsendung eines Flugzeugträgers und eines Kampfbombers in den Nahen Osten und Iran mit der Drohung, die Schifffahrtsstrasse von Hormus zu schliessen. Über diese Meerenge zwischen dem Persischen Golf und dem Indischen Ozean werden fast 40 Prozent der weltweit gehandelten Ölmenge transportiert.
Nebst diesen Problemen in Iran lahmt zweitens und drittens die Produktion des begehrten Rohöls in den zwei wichtigen Förderländern Venezuela und Libyen. Beide Staaten kämpfen mit innenpolitischen Schwierigkeiten und mangelnder Infrastruktur. Allein in Venezuela hat sich die Menge des geförderten Öls seit 2017 von zwei auf eine Million Barrel pro Tag halbiert.
Machtspiele im Nahen Osten
Viertens hatte die Organisation erdölexportierender Länder (Opec) aus ureigensten Gründen – sprich, den Ölpreis auf einem hohen Niveau zu halten – bereits Ende letzten Jahres angesichts des zu dieser Zeit übersättigten Marktes eine Drosselung der Förderung um 1,5 bis 2 Millionen Fass pro Tag beschlossen, den grössten Rückgang seit 2010. Die Opec-Produktionskürzungen laufen noch bis Juni 2019. "Es könnte sein, dass sich die Ölproduktion danach wieder erholt und so ausweitet, dass der Ölpreis einen spürbaren Dämpfer bekommt", wägt Fabien Weber ab.
Eine Schlüsselrolle am Zapfhahn im Nahen Osten spielt Saudi-Arabien. Als Mitglied des Ölkartells der Opec hat das Land zugestimmt, die Produktion zu kürzen und den Preis nach oben zu treiben. Anderseits hat Riad aber auch Präsident Trump angeblich (laut Tweet des US-Präsidenten) zugesagt, die Produktionsausfälle aus Iran zu kompensieren und die eigene Produktion zu erhöhen. Wie Saudi-Arabien diesen Spagat dauerhaft bewerkstelligen will, ist fraglich. Fest steht hingegen, dass Trump angesichts der im Herbst 2020 anstehenden US-Präsidentschaftswahlen kein Interesse an höheren Preisen hat, da teures Öl die US-Wirtschaftsleistung dämpfen könnte. Pictet-Chefökonom Frangulidis hält das derzeitige Säbelrasseln des Präsidenten in den Verhandlungen mit China und im Nahen Osten daher auch für die Taktik des Unternehmers Trump, der in den Verhandlungen mehr verlangt als nötig, um am Ende so viel zu bekommen, wie er wollte.
Der Verknappung des Angebots aus Venezuela, Libyen, Iran und durch die Produktionsbeschränkung der Opec steht auf der anderen Seite eine weitere Produktionserhöhung in Kanada und den USA gegenüber. Die USA können das Angebot jederzeit erhöhen und den Preis für Rohöl über die strategischen Petroleum-Reserven nach unten drücken. Munition ist genug vorhanden: Die US-Lagerbestände befinden sich bereits seit einiger Zeit über dem Fünfjahresdurchschnitt und die amerikanische Energy Information Administration (EIA) prognostiziert für 2019 und 2020 eine höhere Ölproduktion als in den Vorjahren.
Positive technische Signale
Trotz allen Unwägbarkeiten – angefangen bei dem Iran-Konflikt, dem Handelskrieg mit China und den bevorstehenden US-Wahlen über innenpolitische Konflikte in Venezuela und Libyen bis hin zu Fragen nach der globalen Konjunkturdynamik – ist der Markt derzeit dennoch positiv auf den Ölpreis gestimmt – rein technisch gesehen. "Die technische Analyse zeigt, dass der heutige Preis höher liegt als der künftige, das ist ein gutes Zeichen für den Markt", urteilt Fabien Weber.
Wenn da am Ende die Spekulanten nicht doch noch an verborgenen Rädchen drehen. Die sind laut Weber derzeit mehrheitlich «long» positioniert, spekulieren also auf steigende Preise. "Aber es könnte genau das Gegenteil passieren, wenn alle auf einmal verkaufen und dann bricht der Preis unkontrolliert ein", sagt der Rohstoffexperte. Für sehr wahrscheinlich hält er ein solches Szenario zwar nicht, aber auch nicht für unmöglich. Der Ölpreis ist nun mal nicht ohne Grund so volatil, wie er ist.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Handelszeitung mit dem Titel: «Die Ursachen des Öl-Booms»