Sollten die Schuldenregeln und Maastricht-Kriterien nächstes Jahr wieder zur Anwendung gelangen, dann würde es unangenehm für viele EU-Staaten werden, deren ohnehin schon hohen Schulden in der Corona-Pandemie nach oben geschossen sind. Was also tun? Die EU-Kommission hat ihre Pläne vorgestellt. Sie will die Regeln ändern, damit Europas Staaten trotz hoher Schulden mehr Spielraum für Investitionen bekommen. Am Freitag und Samstag diskutieren die EU-Finanzminister in Stockholm erstmals ausführlicher darüber. Ein Überblick zu den Plänen:

Was ist die Ausgangslage?

Wegen der Pandemie und zuletzt der Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine sind die Schuldenstände in der ganzen EU sprunghaft gestiegen. Gleichzeitig sind riesige Summen für die Digitalisierung oder den Umbau der Wirtschaft Richtung Klimaneutralität nötig - und zwar auf Jahrzehnte. Die bisherigen Regeln würden, wenn sie nicht geändert werden, angesichts der pauschalen Vorgaben vermutlich viele EU-Länder überfordern.

Was will Brüssel ändern?

Die EU-Kommission will mehr Flexibilität für EU-Staaten. Künftig sollen sie mit der Brüsseler Behörde individuelle Pläne ausarbeiten, wie die Schulden konkret abgebaut werden sollen, wenn die Obergrenzen von drei Prozent beim Haushaltsdefizit oder 60 Prozent beim gesamten Schuldenstand - jeweils im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung - überschritten werden.

Wie soll das konkret aussehen?

In der Regel sollen hoch verschuldete europäische Länder ihre Schulden über einen Zeitraum von vier Jahren zurückführen. Es können aber auch sieben Jahre sein, wenn die Staaten sich auf Reformen oder bestimmte Investitionen verpflichten, um so wirtschaftliche Schwächen anzugehen - mehr Digitalisierung, mehr Klimaschutz und höhere Verteidigungsausgaben zum Beispiel. Die Mittelfrist-Pläne sollen von der EU-Kommission abgenommen werden und auf Analysen zur Schuldentragfähigkeit basieren, wie sie auch die Europäische Zentralbank oder der Internationale Währungsfonds verwenden. Diese hängen aber stark von den jeweiligen Annahmen zur Zukunft ab. Am Ende der Periode soll der Schuldenstand unter dem Anfangszeitpunkt liegen. Dabei hat die Kommission ein Sicherheitsnetz eingefügt: So lange das Defizit oberhalb von drei Prozent der Wirtschaftsleistung liegt, muss es um mindestens 0,5 Prozent pro Jahr zurückgehen. Bei Zeiträumen von sieben Jahren soll mit einer zusätzlichen Absicherung verhindert werden, dass Länder erst am Ende der Periode aktiv werden. Vier Siebtel der vereinbarten Schuldenreduzierung sollen nach vier Jahren zu Buche stehen.

Wie schätzt die deutsche Bundesregierung die Pläne ein?

SPD und Grüne haben sich in ersten Reaktionen offen gezeigt. Das FDP-geführte Bundesfinanzministerium, das in diesem Fall federführend ist, bleibt aber skeptisch. Finanzminister Christian Lindner fordert weitere Anpassungen und Gespräche, die sich noch hinziehen könnten. "Uns fehlen numerische Vorgaben", sagte er diese Woche. Auch Haltelinien - eine Art zusätzliches Sicherheitsnetz - seien noch nötig.

Was sagen die Kritiker in Deutschland?

Lindner will nach eigenen Angaben eine Aufweichung der Schuldenregeln verhindern. Diese sollen zwar geändert werden, aber verlässlich für einen Schuldenabbau sorgen. Vor allem in der Union wird der Regierung vorgehalten, zu wenig Verbündete gefunden zu haben. Es bestehe die Gefahr, dass die Regeln beliebig ausgelegt würden. "Schuldenabbau und Haushaltskonsolidierung dürfen keine Verhandlungssache sein." Es brauche verbindliche Regeln für alle, um für Vertrauen zu sorgen. "Das Kernproblem des Stabilitätspakts liegt in seiner unzureichenden Durchsetzung." Friedrich Heinemann von Mannheimer Forschungszentrum ZEW argumentiert ähnlich: Die EU-Kommission erhalte zu viel Einfluss. Zeiträume von sieben Jahren seien zudem zu lang angelegt. "Die wirklichen Anpassungslasten würden damit auf den politischen Nachfolger abgewälzt."

Wie geht es weiter?

Bis Ende 2023 sollen die neuen Regeln Gesetzeskraft haben, was selbst die EU-Kommission als ambitioniert einschätzt. Ansonsten würden die alten Regeln weiter gelten, was die EU-Staaten eigentlich nicht wollen. Allerdings braucht es Einstimmigkeit für die Reform. Der Teufel könnte im Detail stecken. Spanien hat im zweiten Halbjahr die rotierende EU-Ratspräsidentschaft inne und ist damit dafür zuständig, Streitfälle zu schlichten.

(Reuters)