Amerikanische Tech-Aktien werden empfohlen, auch wenn sie "nicht ganz billig" sind; Kleinere Schweizer Industrieaktien sind immer noch ein Kauf, selbst bei "schon anspruchsvollen Bewertungen"; Bei Grossbanken und Pharmatiteln sollen sich Anlegerinnen und Anleger nicht vorschnell zum Einstieg entscheiden, obwohl "die Kurs-Gewinn-Verhältnisse dazu einladen".
Solche Aussagen gehören zum Alltag im Aktiengeschäft. Bei Aktien wird über kaum ein Thema so häufig gesprochen wie die Bewertung. Bei steigenden Kursen wird stets davor gewarnt, dass Aktien "zu teuer" und damit das weitere Kurspotential beeinträchtigt sei. Wer clever ist, soll "günstig" kaufen.
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— cash (@cashch) 28. Juni 2018
Das Kurs-Gewinn-Verhältnis oder KGV wird dabei als zentrale Messgrösse verwendet. Es vergleicht den Kurs und den Gewinn – wenn der Kurs stärker steigt als der Gewinn, ist die Gefahr grösser, dass der Kurs mit der Zeit einbricht. Aber ob ein KGV besonders hoch ist, oder ob sich die dahinter verbergende Aktie noch kaufenswert ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab.
Was für ein Gewinn gilt?
Eine allgemeine Betrachtung besagt, dass KGVs über 15 als erhöht und über 20 schon als relativ teuer gelten. Gewisse Branchen haben allerdings strukturell tiefere Bewertungen, wie beispielsweise Versicherer oder Banken. Auch Schweizer Pharmaunternehmen sind tendenziell tiefer bewertet als der Durchschnitt, US-Pharmatitel neigen zu höheren Bewertungen. Industrietitel zeigen ebenfalls schnell höhere KGVs, wenn der Kurs steigt. Also wie soll man sortieren?
"Eine wichtige Frage ist, mit welchen Gewinnerwartungen man arbeitet", sagt Thomas Steinemann, Anlagechef der Bank Bellerive. Er erachtet es für sinnvoll, als Basis den Gewinn zur einen Hälfte aus einem historischen Wert der vergangenen 12 Monate und zur anderen eine Gewinnprognose für die nächsten 12 Monate zu nehmen.
Das wirkt der Tendenz entgegen, dass KGV-Betrachtungen nur positive Gewinnannahmen zugrunde gelegt werden – weil in der Vergangenheit auch Verluste vorkommen können – und macht die Bewertung dadurch etwas genauer. Auf diese Weise gebe das KGV eine eher grobe Aussage darüber, was teuer und was günstig sei, sagt Steinemann.
Systemischer Zusammenhang
Die Banken entwickeln unterschiedliche Ansätze, wie das KGV in Bewertungsmodelle eingebaut werden kann. So kann auch ein Aktienmarkt als gesamtes bewertet werden. "Das KGV ist ein Faktor bei der Bewertung, ob Aktien noch höhere oder tiefere Renditen ermöglichen", sagt Sandro Merino, Chief Investment Officer der Basler Kantonalbank und der Bank Cler. Generell lasse sich sagen, dass bei einem 12-Monate-KGV jeder Punkt Anstieg auf fünf Jahre betrachtet ein halbes Prozent Rendite pro Jahr kostet.
"Der amerikanische Index S&P 500 zum Beispiel hat derzeit ein KGV von 21, wodurch die erwartete Rendite zwischen 4 und 5 Prozent liegt", erklärt Merino. Steige das KGV in dieser Modellbetrachtung, sinke die erwartete Rendite. "Dieser systemische Zusammenhang besteht und beantwortet die Frage, ob man mehr Rendite erwarten kann, wenn man billiger kauft."
Anlageprofis beziehen aber weitere Faktoren in die Betrachtung ein, wenn sie beurteilen wollen, ob Aktien und Aktienmärkte noch günstig sind oder nicht. Wichtig für die Interpretation des KGV sind auch die Zinsen, wobei in aller Regel die Renditen der 10-jährigen US-Staatsanleihen berücksichtigt werden – auch bei Schweizer Aktien. In einem Tiefzins-Umfeld sind höhere KGV möglich, weil bei tiefen Zinsen ein Unternehmen mehr wert ist.
Zinsen beeinflussen Bewertung
Zehnjährige US-Obligationen rentieren im Moment mit 2,86 Prozent, sind aber im Mai schon über 3 Prozent gestiegen. "Wenn nun die 10-jährigen Treasuries auf 4 Prozent Rendite zusteuern, dann kommen die KGV unter Druck. Dies lässt sich dann nur noch kompensieren, wenn auch die Gewinne der Unternehmen steigen", sagt Merino. Dies liefert eine Erklärung, weshalb im Moment beispielsweise gewinnstarke Unternehmen wie amerikanische Tech-Firmen oder auch wachstumsstarke Mid und Small Caps im Schweizer Markt auch bei höheren Bewertungen noch als Kauf gesehen werden.
Bewertungsmodelle verwenden in der Regel neben dem KGV weitere Elemente. Häufig wird auch das Kurs-Buch-Verhältnis (KBV) betrachtet: Dort wird der Aktienkurs mit dem "Wert" einer Firma verglichen, wie er in der Bilanz steht. Gemeint ist das Eigenkapital, zudem noch andere Werte wie Immobilien oder der Wert von Maschinen gerechnet wird. Davon werden dann die Schulden abgezogen. Kurs-Buch erlaubt eine Betrachtung, wie viel in einem Unternehmen "steckt" und ob der Aktienkurs dies spiegelt oder nicht. Ein Problem beim KBV ist, dass die Bilanzen je nach Branche sehr unterschiedliches aussagen.
Zurück zum KGV: Als Betrachtungsgrösse für die Bewertung von Aktien ist es nicht wegzudenken. Als Hilfs- und Orientierungsmittel ist es ein wichtiger Aspekt bei der Frage, welche Titel günstig sind und Potential haben, und welche eher nicht. Losgelöst von weiteren Informationen bringt es aber wenig. Es ist also ein bisschen eine Kunst und verlangt Erfahrung, Aktien mit der "passenden" Bewertung zu finden.