cash.ch: Die Schweiz wird aller Wahrscheinlichkeit nach einer Rezession entgehen. Was heisst dies für den Aktienmarkt? 

Eleanor Taylor Jolidon: Wenn die Schweiz einer Rezession entgeht, und dies scheint ja die Meinung der Nationalbank zu sein, würde dadurch eine starke Reputation aufrechterhalten werden: Wirtschaftliche und soziale Stabilität sowie eine stabile Währung. Wir müssen uns beim Blick auf Schweizer Aktien aber darüber im Klaren sein, dass der Aktienmarkt global ist. Leider wird es so sein, dass börsenkotierte Unternehmen in der Schweiz durch ihre internationale Ausrichtung von einer globalen Rezession betroffen sein werden. 

Was ist Ihre grösste Sorge für die Aktienmärkte 2023?

Uns steht eine Krise der Lebenshaltungskosten bevor. Und dies dürfte diejenigen Mittel betreffen, die Konsumentinnen und Konsumenten in deren eigenen Ermessen ausgeben können. Sie werden mit deutlich höhere Rechnungen konfrontiert, vor allem in Bezug auf Energiekosten. Als Aktienanlegerinnen und -anleger müssen wir deswegen viel vorsichtiger bei der Frage sein, wo wir investieren wollen. Stock Picking wird 2023 noch wichtiger.

Wir sehen aber seit einigen Wochen eine Rally bei Aktien - ist dies nicht ein ermutigendes Signal? 

Leider ist das, was wir bisher gesehen haben, eher eine 'Bärenrally'. Wir haben eine sehr starke Bewertungskorrektur wahrgenommen. Wir bezahlen also deutlich weniger für Aktien als zu Beginn des Jahres. Allerdings haben die Märkte die möglicherweise deutlich tieferen Gewinnzahlen für das Gesamtjahr 2022 noch nicht eingepreist. Deswegen befürchte ich, dass wir im Moment eine Bärenrally haben, die auf zu schlechten Informationen beruht. Wenn wir Anfang 2023 die Unternehmensresultate für das vierte Quartal 2022 und die Erwartungen für 2023 sehen werden, wird es noch einmal zu einer deutlichen Volatilität am Aktienmarkt kommen. Dies könnte aber durchaus auch eine Gelegenheit sein, in Aktien zu investieren. 

Die Bewertungskorrektur betraf ja vor allem Wachstumsaktien. Manche am Markt wichen auf Defensive aus. Sind diese eher eine Gelegenheit, oder eine Art Falle? 

Es bringt nicht viel, über einen bestimmten Anlagestil nachzudenken. Wir müssen uns viel mehr über individuelle Aktien Gedanken machen und uns bei Unternehmen die Frage stellen, was für einen Mehrwert diese ihren Kunden bieten. Wir müssen über Produkte nachdenken, die essentiell für Kunden sind. Wir werden entsprechend einen Shift bei den Prioritäten an den Aktienmärkten sehen. 

Die Fonds bei der Union Bancaire Privée, für deren Leitung Sie mitverantwortlich sind, haben 2022 ihre Positionen namentlich bei Nahrungsmittelherstellern aufgestockt. So ist eine der grössten Positionen im "UBAM Swiss Small and Mid Cap Equity" derzeit Lindt & Sprüngli. Sehen Sie dort besondere Gelegenheiten? 

Wir müssen vorsichtig sein bei Firmen, deren Kundinnen und Kunden statt zu Premiumprodukten stärker zu Alltagsprodukten greifen werden. Interessanterweise ist aber Schokolade zum Beispiel ein Produkt, das auch bei wirtschaftlicher Schwäche immer noch gefragt ist - ein kleiner Luxus, den wir uns immer noch erlauben. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass die Konsumentinnen und Konsumenten zu den Eigenmarken von Handelsketten greifen werden und Premium-Produkte eher meiden. Die wirtschaftliche Schwäche werden auch jene Nahrungsmittelproduzenten zu spüren bekommen, die von der Gastronomie abhängig sind, und nicht vom Konsum, der zu Hause stattfindet. Denn in der Wirtschaftskrise ist damit zu rechnen, dass die Leute weniger ins Restaurant gehen werden.

Eleanor ist Co-Leiterin für Schweizer und Globale Aktien bei der in Genf domizilierten Vermögensverwaltung Union Bancaire Privée (UBP). Sie ist für die Leitung mehrerer Aktienfonds mitverantwortlich.