cash: Herr Gmür, die Aktien vieler Schweizer Versicherer sind in den letzten Wochen und Monaten gestiegen. Wie erklären Sie sich das?

Philipp Gmür: Die Versicherungsindustrie präsentierte in den letzten Jahren einen sehr guten Leistungsausweis. Das zeigte nicht zuletzt die jüngste Berichtssaison. Die Geschäftszahlen sind robust, die Branche profitierte auch von der Entwicklung an den Kapitalmärkten. Zudem zeigten die Ende April erstmals publizierten Berichte über die Finanzlage, dass die Versicherungsgesellschaften sehr solide kapitalisiert sind. Die Aussichten sind ebenfalls gut: Die Arbeitslosigkeit ist tief, die Wirtschaft brummt, und es gibt Signale steigender Zinsen, was dem Lebensversicherungsgeschäft helfen könnte.

Sie dürfen nun einen Werbespot platzieren. Weshalb sollte man die Helvetia-Aktie haben?

Helvetia liefert seit Jahren solide versicherungstechnische Ergebnisse. Wir sind in allen Märkten profitabel, gut kapitalisiert und haben eine verlässliche Dividendenstory. Zudem konnten wir unsere Übernahmen rasch integrieren.

Der Aktienkurs hat sich seit 2009 mehr als verdreifacht. Man könnte einwenden, dass das Potenzial ausgereizt ist.

Wir sind eine andere Gesellschaft als vor zehn Jahren. Helvetia ist heute substanziell grösser und besser diversifiziert. Mit dem Leben- und Nicht-Leben-Geschäft sind wir gut aufgestellt.

Die Dividende für 2017 wurde um 2 Franken erhöht. Im Markt wird für 2018 eine weitere Erhöhung um 2 Franken bereits als gegeben hingenommen.

Das kann ich natürlich nicht kommentieren. Wir streben bekanntlich eine Ausschüttungsquote von 40 bis 50 Prozent an. Und wir wollen in der laufenden Strategieperiode mindestens 1 Milliarde Franken an Dividenden ausschütten. Aber man darf davon ausgehen, dass wir 2018, ausserordentliche Ereignisse vorbehalten, nicht weniger Dividende ausschütten werden als 2017.

Sind Sie mit dem Geschäftsverlauf 2018 bislang zufrieden?

Er liegt, wenn man die Kapitalmarktsituation und unsere Wachstumsambitionen einbezieht, im Rahmen der Erwartungen. Man darf nicht vergessen: Das Versicherungsgeschäft ist zwar langfristig ausgerichtet, die Stabilität des Geschäftes ist aber nicht garantiert. Auf der Schadenseite haben wir Unwägbarkeiten wie Naturkatastrophen und andere Grossschäden. Zudem können die Kapitalanlagen sehr schwankungsanfällig sein. Die Herausforderung liegt darin, sich mittels Rückversicherungsdispositionen und Absicherungsmassnahmen gegen adverse Entwicklungen zu wappnen.

Sie planen im Rahmen der Strategieziele eine Ausdehnung des Geschäftsvolumens von derzeit 8,5 Milliarden Franken auf 10 Milliarden Franken bis 2020, dämpfen das Ziel jeweils verbal auf 'Ambition' oder 'Soft-Vorgabe' herunter. Haben Sie Angst davor, dass das Ziel nicht erreicht wird?

Überhaupt nicht. Unser Ziel ist ganz klar: Profitabilität vor Wachstum. Wir haben harte Ziele, an denen wir uns messen lassen. Das sind die Combined Ratio (Schaden-Kosten-Quote, Anm. der Red.), die Kapitalausstattung, die Dividende, die Ausschüttungsquote oder die Neugeschäftsmarge im Lebengeschäft. Die Wachstumsambitionen sollen unterstreichen, dass wir ein aktiver Player am Markt bleiben wollen. Das heisst, dass wir, sollten sich Gelegenheiten ergeben, Portefeuilles oder Gesellschaften akquirieren wollen. Es wäre sicher leicht, das genannte Geschäftsvolumen zu erreichen, indem wir zum Beispiel mehr traditionelles Lebensversicherungsgeschäft oder BVG-Kontrakte zeichneten. Aber das ginge zu Lasten der Profitabilität. Und genau das wollen wir nicht.

Helvetia ist im Ausland in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Spanien tätig. Sie müssen mit Blick auf den Heimmarkt  fast nach Übernahmezielen im Ausland schielen, um das angestrebte Geschäftsvolumen zu generieren.

Klar, der Heimmarkt ist bereits stark konsolidiert und teils auch gesättigt. Und ja: Wir haben die Ambition, unsere Auslandmärkte zu stärken, vor allem in Deutschland und in Spanien. Hier sehen wir Potenzial für unser Geschäft, in Deutschland speziell im digitalen Bereich. Bei Online-Verkaufspunkten haben wir in Deutschland übrigens grosse Fortschritte erzielt, wie etwa unsere Zusammenarbeit mit Brillen.de beweist. Aber es müssen Übernahmeziele sein, die zu unserem Geschäftsmix passen. Die Ziele sind dünn gesät, und wir wollen uns hier Zeit lassen.

Sprechen wir von Übernahmezielen im Nicht-Leben-Bereich?

Wir suchen im Ausland eher Verstärkung im Nicht-Leben als im Leben-Bereich.

Können Sie sich vorstellen, geografisch in neue Gefilde vorzustossen?

Das steht im Moment nicht im Vordergrund. Wir wollen aber Wachstumsmöglichkeiten in unseren Spezialitäten- und Nischenmärkten nutzen, die wir auch ausserhalb Europas anbieten. Dazu gehören die Aktive Rückversicherung und das Transport-, Kunst- und Engineering-Geschäft.

Obwohl der Inlandmarkt konsolidiert scheint, war Helvetia in der Schweiz akquisitorisch immer aktiv: 1996 die Fusion mit Patria, 2010 die Übernahmen von Alba und Phénix oder 2014 die Akquisition von Nationale Suisse, um nur einige zu nennen. Werden Sie punkto Übernahmen auch in der Schweiz aktiv?

Das ist im Moment kein Thema. Der Markt und die einzelnen Gesellschaften sind sehr robust und gut kapitalisiert.

Wesentlich für das Leben-Geschäft von Versicherern sind die Zinsen. Wie sehen Sie die Entwicklung in der Schweiz?

Schauen Sie, es gibt tausende Leute, die ihr Geld damit verdienen, Zinsprognosen zu machen. Nur wenige bekommen recht (lacht). Ich möchte mich hier nicht auch als Prophet betätigen. Bei den Zinsen für zehnjährige Bundesanleihen sahen wir immerhin schon eine gewisse Erholung. Wir haben uns zwar auf eine lange anhaltende Tiefzinsphase eingestellt. Aber wir gehen davon aus, dass die Zinsen auf mittel- und langfristige Sicht wieder auf ein vernünftigeres Niveau steigen.

Wie wollen Sie das Leben-Geschäft weiter entwickeln?

Im Lebensversicherungsgeschäft sind wir anhängig von der Zinsentwicklung, aber auch von den regulatorischen Vorgaben. Wir dürfen heute keine Garantien mehr geben über die Kapitalgarantie hinaus. Wir müssen also Produkte entwickeln, bei denen der Kunde nach unten abgesichert ist, aber dennoch teilhaben kann zum Beispiel an der guten Entwicklung von Aktien. In den letzten Jahren haben wir unsere Produktefamilie massiv verändert: weg vom traditionellen Lebensversicherungsgeschäft mit hohen Garantien, hin zum eigenkapitalschonenden Geschäft. Der Kunde erhält zwar eine geringere Garantie, dafür partizipiert er in grösserem Ausmass am Aufwärtspotenzial. Gleichzeitig bleibt er während der Laufzeit gegen Todesfall und allenfalls gegen Erwerbsunfähigkeit versichert. Die Garantien können auch Drittparteien übernehmen. Wir wollen und müssen als Versicherer weiter für Sicherheit stehen, aber diese Sicherheit hat ihren Preis.

Axa zieht sich vom Vollversicherungsgeschäft zurück, zuvor hat dies schon Zurich getan. Da tönt es wie Lippenbekenntnisse, wenn Helvetia und andere Versicherer beteuern, dass sie das Geschäft beibehalten wollen.

Für uns ist es wichtig, dass wir weiterhin die ganze Palette anbieten können, inklusive teilautonome Lösungen und reine Risikoversicherungen. Für das Vollversicherungsmodell braucht es aber Rahmenbedingungen, bei denen man die Kapitalkosten verdienen kann. Es ist zu kurz gegriffen, wenn man die Rahmenbedingungen nur an den Lebensversicherern festmacht. Der zu hohe Umwandlungssatz betrifft alle Anbieter in der 2. Säule. Es findet eine dramatische Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Rentnern statt. Hier tickt letztlich eine Zeitbombe. Staatliche Pensionskassen wurden und werden immer wieder ausfinanziert – vom Steuerzahler. Es gab in der Vergangenheit auch immer wieder Pensionskassen, die von Auffangeinrichtungen gerettet werden mussten. Die Bereitschaft für solche Rettungsaktionen sinkt.

Immobilien machen bei Helvetia 14 Prozent der Vermögensbasis aus. Analysten bezeichnen dies mit Blick auf einen möglicherweise korrigierenden Immobilienmarkt als Schlüsselrisiko für Helvetia.

Immobilien generieren für uns seit Jahrzehnten stabile Erträge. Wir besitzen hauptsächlich Mietobjekte, drei Viertel davon stammen aus dem Wohneigentumsbereich. Wir haben nach wie vor sehr tiefe Leerstandsquoten. Wir sehen in unserem Immobilienportefeuille relativ geringe Risiken, da wir vor allem in einem mittleren Preissegment investiert sind, wir haben also keine Luxusimmobilien. Bei den Hypotheken haben wir Annahmerichtlinien, die uns Solidität gewährleisten.

Problematisch könnte aber vor allem die Entwicklung bei den Renditeliegenschaften wie mittelgrossen Mehrfamilienhäusern werden. Aus diesem Bereich haben sich einige Institutionelle Investoren zurückgezogen. Wie sieht das bei Ihnen aus?

Wir investieren nach wie vor in Wohnbauten. Wenn wir von Beginn an dabei sein können, ist es interessant für uns. Wir sehen hier nach wie vor gute Renditemöglichkeiten.

Wie schreitet die Digitalisierung bei einem Versicherer wie Helvetia voran?

Erstens durch Automatisierung. Hier sehe ich grosses Potenzial, dass wir mit neuen Technologien effizienter werden können. Das zweite ist der Bereich 'Smart Data'. Wir werden viel schneller und viel mehr entscheidendere Daten zur Verfügung haben. Der dritte Bereich beinhaltet die Fragen: Wie entwickeln sich die 'Customer Journeys' und die Kundenzugänge? Wir probieren diese Kundenreisen unter anderem durch 'Öko-Systeme' einzufangen. Hier ist zum Beispiel Moneypark ein hervorragender Anknüpfungspunkt rund um die Finanzierung von Wohneigentum.

Helvetia kaufte Moneypark Ende Dezember 2016 und zahlte für 70 Prozent des Hypothekenvermittlers stolze 107 Millionen Franken. Damals war noch Pierin Vincenz Helvetia-Verwaltungsratspräsident. Würden Sie diesen Deal nochmals so durchziehen?

Ja, klar. Wir glauben an das Geschäftsmodell, und bei gleich bleibenden und steigenden Zinsen wird das Unternehmen weiter profitieren. Wenn ich vorher 'Öko-System' erwähnte: Wir sind daran, rund um Moneypark ein Öko-System 'Home' aufzubauen. Hier arbeiten wir auch mit Startups zusammen, und so entsteht ein ganzes Netzwerk, von der Immobiliensuche über Finanzierung und Versicherung bis zu Vermietung und Unterhalt.

Digitalen Wandel kann man einerseits erkaufen durch Akquisitionen, wie dies viele Firmen aus dem Finanzbereich tun, oder durch internen Wandel. Wie setzt Helvetia die Schwerpunkte?

Wir haben vier Säulen: Wir sind bereit, Ideen einzukaufen, wie geschehen mit Moneypark. Die Pharmaindustrie geht diesen Weg übrigens seit Jahrzehnten. Die zweite Säule ist unser Venture Fund, der mit 55 Millionen Franken ausgestattet ist. Hier wollen wir in den nächsten fünf bis sechs Jahren je 10 Millionen Franken investieren in Startups, die entweder selber im Versicherungsgeschäft aktiv sind oder die eine Brücke zu unserem Kerngeschäft schlagen können. Im letzten Jahr haben wir 474 Objekte angeschaut und letztlich bei 5 Firmen investiert. Die dritte Säule stellen Kooperationen dar, beispielsweise mit einer Firma, die Beratung und Vertragsabschluss per Video-Chat ermöglicht, oder mit dem Institut für Technologie-Management der Universität St.Gallen. Die vierte Säule, und kulturell ist dies wohl die wichtigste, sind so genannte interne 'Incubators'. Unsere Mitarbeitenden können neue Geschäftsideen vorschlagen, die Schritt für Schritt von einer Jury beurteilt und gegebenenfalls  finanziert werden. Im Erfolgsfall kann dies bis zum Weg in die Selbstständigkeit führen.

Eine Beteiligung ihres Venture Funds ist Volocopter, eine Art Privathubschrauber für den Nahverkehr der Zukunft. Das ist recht weit entfernt vom traditionellen Versicherungsgeschäft…

Genau das könnte Brücken bauen zu unserem Geschäft. Es ist unheimlich interessant, was im Drohnen-Geschäft abläuft. Zur Zukunft gehört hier auch ein Segment von Leuten, welche solche Drohnen benützen wollen. Und es gibt uns Zugang zu Know-How vor allem punkto Mobilität, das wir sonst gar nicht hätten.

Amazon baut das Versicherungsgeschäft aus, Google hat sich auch schon angenähert, zumindest beim Versicherungsvergleichsservice. Sind die grossen Tech-Konzerne eine Bedrohung für ihr Geschäft?

Die Firmen wollen möglicherweise ihre Möglichkeiten beim Kundenzugang nutzen, aber sie werden kaum die Versicherungsrisiken beispielsweise auf die eigene Bilanz nehmen wollen. Dazu kommen vor allem auch regional geregelte regulatorische Themen, welchen die genannten Konzerne wohl ebenfalls aus dem Weg gehen wollen. Aber wir können sicher lernen von den Tech-Konzernen oder auch mit ihnen kooperieren.

Im Video-Interview äussert sich Philipp Gmür auch zum Sponsoring von Helvetia.

Der promovierte Jurist Philipp Gmür (55) ist seit 1. September 2016 CEO der Helvetia Gruppe. Eingetreten in das Unternehmen ist er bereits 1993. Nach der Tätigkeit als Generalagent in Luzern wurde Gmür Leiter Vertrieb bei Helvetia Schweiz. Von 2003 bis 2016 war er CEO von Helvetia Schweiz und Mitglied der Gruppen-Geschäftsleitung. Philipp Gmür ist mit der CVP-Nationalrätin Andrea Gmür-Schönenberger verheiratet. Sie haben vier gemeinsame Kinder. Einer von Gmürs drei Brüdern ist Felix Gmür, Bischof des Bistums Basel.