(Mit mehr Lindner-Zitaten, Reaktionen von Politik und Wirtschaft)

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Steuerschätzung sagt Mindereinnahmen von 148,7 Mrd Euro voraus

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Lindner: Müssen Prioritäten beim Etat 2024 setzen

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"Ergebnis eröffnet keine neue finanziellen Handlungsspielräume"

- von Holger Hansen und Christian Kraemer und Klaus Lauer

Berlin/Niigata, 11. Mai (Reuters) - Eine überraschend schlechte Kassenlage befeuert den Etat-Streit in der Bundesregierung. Für die Jahre bis 2027 müssen Bund, Länder und Gemeinden laut neuer Steuerschätzung mit 148,7 Milliarden Euro weniger auskommen als noch im Herbst 2022 angenommen. Allein beim Bund fallen die Einnahmen um 70,2 Milliarden Euro geringer aus. Für 2024 sind es 13 Milliarden Euro weniger. Lindner führte dies auf Steuerentlastungen zurück, die mit jährlich etwa 34 Milliarden Euro zu Buche schlügen. Beim Etat für 2024 werde man die Ausgaben strikt priorisieren. "Was ist die Konsequenz? Keine", sagte Lindner am Donnerstag zum Ergebnis der Steuerschätzung. Diese eröffne "keinerlei neuen finanziellen Spielräume". Beim Haushalt 2024 werde man sich sehr strikt auf Prioritäten verständigen müssen: "Ein Mehr an Ausgabenwünschen können wir gegenwärtig mit den gegebenen Einnahmen nicht realisieren."

Kurz zuvor hatte der FDP-Chef angekündigt, dass der für 21. Juni geplante Kabinettsbeschluss mit einem Etatentwurf für 2024 verschoben werde. Einen konkreten Zeitplan nannte er nicht, aber noch im Mai solle es Klarheit geben. Die Opposition warf der Regierung Unfähigkeit vor. Es sei "ein Affront gegenüber dem Parlament", dass der Etatentwurf auf den St. Nimmerleinstag verschoben werde, sagte CDU-Haushälter Christian Haase. Experten erwarten, dass bis September eine Einigung erzielt werden muss.

Auch aus der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP kam Kritik. Grünen-Haushälter Sven-Christian Kindler forderte den Finanzminister auf, einen einigungsfähigen Etatentwurf für 2024 vorzulegen. "Bis zum Sommer muss ein Haushaltsentwurf im Kabinett beschlossen und dann an das Parlament übergeben werden", sagte Kindler. "Wir wollen daher als Ampel dem Finanzminister in der nächsten Sitzung des Haushaltsausschusses die Gelegenheit geben, seinen neuen Zeitplan zu erläutern." Auch SPD-Haushälter Dennis Rohde pochte auf Tempo: "Der Regierungsentwurf muss vor der Sommerpause vorliegen, damit ein geordnetes parlamentarisches Verfahren gewährleistet ist."

LINDNER - DER 21. JUNI GILT NICHT MEHR

Auf dem Flug zum G7-Finanzministertreffen in Japan machte Lindner deutlich, dass der Etatstreit festgefahren ist. "Der 21. Juni gilt nicht mehr", sagte er mit Blick auf einen Kabinettsbeschluss zum Etatentwurf 2024 und zur Finanzplanung bis 2027. Im März hatte Lindner bereits die sonst üblichen Eckwerte für den Etatentwurf abgesagt. Aktuell klafft bei den Plänen für 2024 Lindner zufolge noch eine Lücke von rund 20 Milliarden Euro. An den bisherigen internen Berechnungen ändere sich durch die Steuerschätzung nichts, sagte er. Alle Ministerien zusammen wollen mehr Geld ausgeben als durch Einnahmen, Rücklagen und neue Schulden zur Verfügung steht, zumal die Schuldenbremse eingehalten werden soll. Lindner hat deutlich gemacht, dass mehr gespart werden müsse. Neue Ausgaben solle es nur durch Einsparungen an anderer Stelle geben.

Aus der Wirtschaft kamen Rufe, das Kabinett müsse nun einen Realitätscheck für die zu vielen Ausgabenwünsche machen. "Es ist richtig und wichtig, dass Finanzminister Lindner die Staatskasse gegen die plündernden Kabinettskollegen schützt", sagte Marie-Christine Ostermann, Präsidentin der Familienunternehmer. Es dürfe auch keine weiteren Sondervermögen auf Pump geben.

Die Steuereinnahmen des Staates werden 2025 laut Schätzung erstmals eine Billion Euro überschreiten. Dies zeige, dass Deutschland kein Einnahmeproblem habe, sagte Lindner. "Im Gegenteil: Wir sind ein Hochsteuerland." Der Minister sah sich bestätigt in seiner Position, "dass jetzt nicht die Zeit von Steuererhöhungen ist". Wer dies fordere, gefährde die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hingegen forderte einen Einkommensteuertarif, der den Großteil der Menschen entlaste, aber Spitzenverdiener stärker in die Pflicht nehme. "Außerdem muss die Politik endlich die obszöne Vermögenskonzentration in Deutschland angehen – es braucht die Wiedererhebung der Vermögensteuer und eine gerechtere Erbschaftssteuer", erklärte DGB-Vorstand Stefan Körzell. Linken-Finanzexperte Christian Görke forderte eine Reform der Erbschaftsteuer. "Es kann nicht sein, dass Mega-Erbschaften am geringsten besteuert werden."

Kritik kam auch vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). "Die logische Konsequenz der vom Bundesfinanzminister geforderten Kombination von Schwarzer Null und Verzicht auf Steuererhöhungen wird eine Beschleunigung der Deindustrialisierung und des Verlusts von Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand in Deutschland sein", sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Denn der Staat müsse dringend mehr in den ökologischen und digitalen Umbau investieren, ins Bildungssystem und in eine moderne Infrastruktur. Sonst werde "der wirtschaftliche Abstieg Deutschlands unumkehrbar sein". (Bericht von Holger Hansen, Klaus Lauer in Berlin und Christian Krämer in Niigata. Redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte). )