Seit 2005 heisst ein öffentlicher Platz im St. Galler Bleicheliquartier Raiffeisenplatz. Er ist umgeben von Gebäuden von Raiffeisen Schweiz. Augenfällig ist die Gestaltung durch die Künstlerin Pipilotti Rist mit einem alles überdeckenden Belag aus rotem Granulat. Der inoffizielle Name lautet denn auch «Roter Platz». Am Rand befindet sich die St. Galler Synagoge.

Im Mai 2023 äusserte ein Komitee öffentlich Kritik an der Benennung des Platzes. Der Raiffeisengründer in Deutschland, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, sei ein Antisemit gewesen. Als Alternative wurde der Name der jüdischen Flüchtlingshelferin Recha Sternbuch vorgeschlagen.

Für eine Umbenennung setzten sich unter anderem der frühere SP-Ständerat Paul Rechsteiner, der Historiker Stefan Keller, aber auch Pipilotti Rist ein. Raiffeisen Schweiz verwies damals auf die laufende Forschung zur eigenen Geschichte, in der es auch um das Thema Antisemitismus gehe.

Keine antisemitische Bank

Am Donnerstag wurde nun dieser Forschungsbericht in St. Gallen vorgestellt. Das zentrale Fazit: «Es fanden sich keine Hinweise darauf, dass Antisemitismus im Bankgeschäft der Schweizer Raiffeisenorganisationen eine Rolle spielte.»

Zu diesem Schluss kamen Gregor Spuhler, Historiker und Leiter des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich, sowie die Historikerin Verena Rothenbühler, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Raiffeisengeschichte untersuchten.

Zum einen ging es um den Beginn der Bewegung in Deutschland und damit um Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 bis 1888). Es habe ein Quellenproblem gegeben, viel Material sei verloren gegangen, erklärte Spuhler. In einem von Raiffeisen verfassten internen Bericht um 1880 fanden sich aber viele antisemitische Stereotypen.

Gegen jüdischen Wucher

Es gebe aber in der gleichen Zeit von Raiffeisen einen Grundsatzartikel zur «Judenfrage», in dem er sich von der damaligen Judenhetze distanzierte. Spuhler bezeichnete Raiffeisen als einen «Antisemiten mit Widersprüchen». In der Bewegung sei das Narrativ verbreitet worden, dass die Raiffeisen-Darlehenskassen das «Instrument gegen jüdischen Wucher» seien.

Mit zeitlicher Verzögerung fasste die Raiffeisenbewegung auch in der Schweiz Fuss. Die erste Raiffeisenkasse entstand 1899 im thurgauischen Bichelsee. In der Anfangszeit sei das in Deutschland geprägte antisemitische Gründungsnarrativ in der Schweiz verfestigt worden, hiess es an der Medienorientierung.

Die ersten Raiffeisenkassen entstanden in ländlich-katholischen Gebieten und damit in einem Milieu, in dem antisemitische Vorurteile weit verbreitet gewesen seien, so Rothenbühler.

Die Forschenden erhielten unter anderem Zugang zu den Archiven von 40 regionalen Raiffeisenbanken. Dort fanden sie keine Belege, dass Antisemitismus im konkreten Bankgeschäft eine Rolle spielte. So seien Ablehnungen von Krediten ökonomisch begründet worden. In Mitgliederlisten hätten sich auch jüdische Namen gefunden.

Umbenennung nicht nötig

Mit dem Forschungsbericht sei nun eine Lücke geschlossen worden, sagte Christian Hofer, bei Raiffeisen Schweiz zuständig für Nachhaltigkeit, Politik und Genossenschaft. Raiffeisen distanziere sich vom antisemitischen Gründungsnarrativ. Es stehe im Widerspruch zu den Werten des Unternehmens und der Genossenschaft.

Aufgrund der Ergebnisse könne der Platz weiterhin Raiffeisenplatz heissen, sagte Hofer. Zuständig für die Benennung von Strassen und Plätzen sei aber die Stadt St. Gallen. Vom Komitee, das vor knapp einem Jahr eine Umbenennung gefordert hatte, gibt es vorerst noch keine Reaktion.

(AWP)