Das ehrgeizige Projekt der Salzgitter, die Stahlerzeugung zu revolutionieren, ist von zentraler Bedeutung für Deutschlands industrielle Basis. Von den Autos der nahen Volkswagen-Produktion bis zu den Anlagen von Siemens — "Stahl ist der Ausgangspunkt jeder denkbaren Wertschöpfungskette", ist Salzgitter-Chef Gunnar Groebler überzeugt. "Er ist ein Schlüsselfaktor in jeder Branche, in jedem Land."

Das war nie anders — die Hochöfen und Giessereien der deutschen Hersteller waren der Motor der Industrialisierung, von Weltkriegen und Wirtschaftswunder. Doch auf die Stahlkrisen des letzten Jahrhunderts folgt nun eine Herausforderung ganz anderer Natur. Denn Stahl ist auch einer der schlimmsten Verursacher von Treibhausgasemissionen.

Sein Produktionsprinzip ist seit über anderthalb Jahrhunderten unverändert. Es beruht auf Öfen, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden und für jede Tonne Stahl mehr als eine Tonne Kohlendioxid erzeugen — mehr als die Zement- oder Chemiebranche.

Die Umstellung auf "grünen" Stahl ist daher auch ein Lackmustest für die Frage, wie die Schwerindustrie in Europa sich anpassen kann auf die Erfordernisse einer klimaneutralen Wirtschaft, die schon bis 2045 erreicht werden soll.

Droht eine Abwanderung?

Eine Frage, die in den bereits krisenerprobten stahlerzeugenden Regionen im Ruhrgebiet, im Saarland und in Niedersachsen auch an die Identität rührt. Wenn die angeschlagenen Stahlgiesser wie Thyssenkrupp, Salzgitter und Dillinger Hüttenwerke über die Klimawende ins Straucheln geraten, müssten sich Grossabnehmer wie Mercedes-Benz oder BMW anderweitig versorgen. Weitere Lieferketten des verarbeitenden Gewerbes könnten abwandern und ein wichtiges Kapitel des industriellen Erbes endgültig schliessen.

"Wenn wir die Umstellung auf saubere Technologien nicht schaffen, bedeutet das das Ende des Stahls hierzulande", sagt Jürgen Barke, Wirtschaftsminister des Saarlandes, wo einst die Stahlhelme für den Ersten Weltkrieg hergestellt wurden, aber schon in den 1980er Jahren Hütten wie die jetzt als Weltkulturerbe vermarktete in Völklingen schliessen mussten: "Es ist eine Frage des Überlebens."

Der Standort Salzgitter im sanft hügeligen Harzvorland ist ein Fallbeispiel für Strukturwandel in Echtzeit. Während an einem Ende der weitläufigen Anlage flüssiges Metall aus den drei kohlebefeuerten Hochöfen strömt, wird an anderer Stelle des Werksgeländes in einem Rohrsystem mit Hilfe von Strom aus nahe gelegenen Windturbinen Wasser in Wasserstoff umgewandelt, der dann in Kammern gepumpt wird, in denen Roheisenerz zu gereinigten Pellets, dem so genannten Eisenschwamm, aufbereitet wird.

Im Gegensatz zu herkömmlichen Giessereien muss das Eisen für den grünen Stahl nicht eingeschmolzen werden. Um die Umwandlung abzuschliessen, wird das gereinigte Erz in einem elektrisch betriebenen Ofen, der einem riesigen Dampfkochtopf ähnelt, mit anderen Elementen kombiniert. Das Verfahren eliminiert etwa 97 Prozent der Kohlenstoffemissionen, aber die Umsetzung ist nicht billig: Salzgitter rechnet mit Kosten von bis zu 2,4 Milliarden Euro, für die der Konzern bereits fast 1 Milliarde Euro an Subventionen erhalten hat.

Damit die grüne Stahlproduktion langfristig funktioniert, muss Salzgitter einerseits sicherstellen, dass es über genügend erneuerbare Energien und die Infrastruktur für die Umwandlung von Energie in Wasserstoff verfügt — andererseits, dass die Kunden die höheren Kosten tragen. Oder dass der Staat einspringt.

Druck von Investoren und gesetzliche Auflagen

Unter Druck von Investoren und gesetzlichen Auflagen rüsten sich Stahlhersteller in ganz Europa für diese Aufgabe. Salzgitter will alle drei traditionellen Giessereien bis 2033 umstellen. ArcelorMittal investiert in Anlagen in Frankreich und Belgien, während in Schweden SSAB und das Start-up H2 Green Steel an Projekten arbeiten, die die Wasserkraftressourcen des Landes nutzen.

All das ist zudem nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Kampf um die Zukunft Deutschlands als klimaneutraler, aber energieintensiver Produktionsstandort. Die Klimaziele erzwingen den Ausstieg aus der Kohle, die die deutschen Stahlregionen traditionell befeuerte. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist es auch mit dem billigen Erdgas vorbei. Doch für die grüne Energieproduktion fassen die Experten den Nahen Osten und Nordafrika ins Auge, während Deutschlands Kapazität zur Erzeugung erneuerbarer Energien durch seine relativ kurze Küste und seine dunklen Winter begrenzt ist.

Die Stahlindustrie zieht angesichts dieser Herausforderungen Optionen in Betracht, die früher abwegig erschienen wären. Thyssenkrupp etwa erwägt, die vorgelagerte Stahlproduktion zu reduzieren und stattdessen ausländische Stahlblöcke nach Deutschland zu importieren, wo sie zu höherwertigen Produkten verarbeitet werden sollen.

Dies würde nicht nur den CO2-Fussabdruck des Herstellers sondern auch die gesamte Produktion verkleinern, aber der Duisburger Traditionsbetrieb hat möglicherweise kaum eine andere Wahl: Um die Menge an Wasserstoff zu erzeugen, die für eine Jahresproduktion von grünem Stahl ausreicht, bräuchte es den Strom von 3800 Windkraftanlagen — etwa 13 Prozent der derzeitigen Kapazität in Deutschland.

«When We Are Gone»

Die Völklinger Hütte im Saarland zeigt was passieren kann, wenn der Übergang misslingt. Einst eines der mächtigsten Stahlwerke Europas, musste die Anlage 1986 schliessen, nachdem es ihr nicht gelungen war, sich in der einsetzenden Globalisierung zu behaupten. Auf dem Höhepunkt der 1960er Jahre arbeiteten mehr als 17'000 Stahlwerker in 24-Stunden-Schichten, um Metall zu schmelzen und zu formen. Mehr als drei Jahrzehnte später sind die Hochöfen, Erzförderanlagen und Kokereien nur noch ein Teil des Weltkulturerbes und ein Ziel für Touristen, Künstler und Geschichtsinteressierte.

In einer Halle, in der früher riesige Gebläse standen, um die Hochöfen zum Glühen zu bringen, läuft eine Videoinstallation von Julian Rosefeldt mit dem Titel "When We Are Gone" in Endlosschleife. Der Film folgt Wissenschaftlern, die auf eine verwüstete Erde zurückgekehrt sind, um die Hinterlassenschaften verschwundener Kulturen zu erforschen. Die Arbeit ist eine verstörende Kritik an der deutschen Industriegesellschaft und eine Erinnerung daran, wie gross die Aufgabe ist, sie in eine klimaneutrale Zukunft zu führen.

"Wir müssen den Mut haben, die Herausforderungen zu bewältigen, vor denen die deutsche Industrie steht", sagt der saarländische Wirtschaftsminister. "Wir arbeiten hart daran, den Übergang zu einem Erfolg zu machen."

(Bloomberg)