cash.ch: Barings hat vor kurzem eine 50:50-Wahrscheinlichkeit für einen Stagflations-Schock prognostiziert. Haben sich da die Aussichten verbessert oder verschlechtert?
Agnès Belaisch: Wir haben diese Prognose Anfang März aufgestellt und wollten für den schlimmsten Fall gefasst sein. Wir wollten uns auf die Downsides vorbereiten. Wir haben aber zwei Szenarien aufgezeichnet: Eines mit einer 50-Prozent-Wahrscheinlichkeit, eines mit einer 40-Prozent-Wahrscheinlichkeit für einen Stagflations-Schock.
Was ist der Unterschied zwischen diesen Szenarien?
Bei beiden Szenarien liegen relativ eng beieinander. Der einzige Unterschied ist die Frage, ob Deutschland oder Italien oder die Europäische Union ein Einfuhrverbot für russische Energieträger verhängen werden. Dies würde das Bild komplett verändern. Ein Importstopp wäre kurzfristig ein Schock. Je nachdem, wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt und ob ein Boykott gegen Russland verhängt wird oder nicht, wird es also in Europa im nächsten Jahr entweder eine Rezession geben, oder die Inflation wird hoch bleiben, aber auch die Nachfrage, die ein über dem Trend liegendes Wachstum unterstützt.
Der Eindruck, den man in Europa und speziell bei Deutschland nun hat, ist eher jener, dass viele Länder nicht auf Gaslieferungen aus Russland verzichten wollen. Doch nach Kriegsverbrechen steigt der Druck auf einen Importstopp. Ist das 40-Prozent-Szenario noch realistisch?
Deutschland hat im Moment die Wahl zwischen Pest und Cholera. Das Land ist in einer Zwickmühle. Es gibt meiner Ansicht nach in Deutschland das Argument für einen Importstopp, aber natürlich auch die Ängste der Industrie, speziell der starken Chemie und Petrochemie, vor einer Rationierung. Kommen die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland nun schnell voran, würde ein Boykott möglicherweise nicht notwendig. Es wäre möglicherweise auch nicht die effektivste Methode, den Krieg und den Horror in der Ukraine zu stoppen.
Längerfristig aber bleiben Energieimporte aus Russland aber ein Streitthema.
Bis Ende Jahr hat Deutschland genug Gasreserven. Das Problem wird dann im nächsten Jahr akut werden. Deswegen sagen wir einen möglichen Schock mit einer Rezession für nächstes Jahr voraus.
Im Falle des «besseren» Szenarios erwarten Sie Wachstum, aber auch mehr Inflation. Was bedeutet dies für die Europäische Zentralbank (EZB) und die Geldpolitik in der Eurozone? Ist die Notenbank nicht bei derzeit 7,5 Prozent durchschnittlicher Teuerung ohnehin schon stark unter Druck? Ist dies noch komfortabel?
Keine Zentralbank ist derzeit in einer komfortablen Lage, weder in Europa und noch den USA. Was im Falle Europas aber interessant ist: Die Marktteilnehmer haben anders als in den USA keine starken Zinserhöhungen eingepreist. Die Renditekurve der 'Bunds', also deutscher Staatsanleihen, ist bei allen Laufzeiten – jenseits der kurzfristigen, politisch verankerten Laufzeiten – um 40 Basispunkte angestiegen, während sie bei US-Treasuries um 100 Prozent gestiegen ist. Man geht zwar davon aus, dass die EZB die Zinsen erhöht und auch erhöhen muss, aber alles andere als etwas drastisches unternehmen wird. Eine Zinserhöhung noch dieses Jahr ist gewiss und macht Sinn, der Markt erwartet aber noch eine zweite. Selbst das wäre immer noch akkommodativ für die europäische Wirtschaft und die Unternehmen.
EZB-Ratsmitglied Isabel Schnabel sagte am Wochenende, nach dem Auslaufen der Anleihenkäufe im Sommer könnten im Herbst die Zinsen angehoben werden. Verlassen Sie sich also darauf?
Der Markt preist genau dies ein. Es macht Sinn, dass die EZB die Asset-Käufe und die Zinserhöhungen entkoppelt hat. Wenn man sich die Verschuldungsprofile der stärksten und schwächsten Euro-Länder anschaut, haben die Schatzämter wirklich eine beeindruckende Leistung erbracht. Die durchschnittlichen Finanzierungskosten für Staatsanleihen sind höher als die derzeitigen Marktbedingungen: Die Regierungen können es sich also leisten, Kredite aufzunehmen und trotzdem die durchschnittlichen Zinskosten der Schulden zu senken. Die Regierungen emittieren wieder Schulden mit längeren Laufzeiten, und ein grosser Teil der Schulden ist festverzinslich. Die EZB kann also die Zinsen erhöhen, ohne zu grosse Volatilität auszulösen.
Manche würden dies angesichts der immensen Herausforderungen - immer noch hohe Verschuldungsgrade, neue Kosten wegen der Pandemie oder der steigenden Energiepreise - als etwas rosiges Szenario sehen.
Nun, es hat einen kompletten Paradigmenwechsel in der Europäischen Union gegeben. Die Regierungen und Finanzminister in der EU waren bereit, gemeinsam mehr Anleihen auszugeben, als sich die Lage im letzten Jahr verschärfte und derzeit warten eine Billion Euro an ungenutzten NextGenEU-Mitteln, SURE-Darlehen und Strukturfonds darauf, ausgegeben zu werden. Der Markt unterschätzt die Stärke der europäischen Volkswirtschaften.
Aber wir sehen immer noch das Problem einer steigenden Inflation.
Auf zwei Jahre hinaus betrachtet sind die Inflationserwartungen für die Eurozone bei 4 Prozent, deutlich höher als das 2-Prozent-Inflationsziel der EZB. Danach aber sinken die längerfristigen Inflationserwartungen allmählich auf dieses Niveau. Und auch wenn wir eine länger anhaltende Inflation sehen: Auch das Trend-Wachstum ist überdurchschnittlich.
Warum, denken Sie, ist dann die Inflationsangst so gross?
Eine Inflation, die im oberen einstelligen Bereich verharrt, behindert natürlich die Fähigkeit der Wirtschaft, zu wachsen. Aber wenn wir in der zweiten Jahreshälfte eine Lösung im Ukraine-Krieg erreichen, sollte sich der Anstieg der Energiepreise nicht weiter beschleunigen. Darüber hinaus war die deutsche Haltung des Sparens und der niedrigen Staatsverschuldung eine Vorbereitung auf aussergewöhnliche Schocks wie den, den wir derzeit erleben. Jetzt ist die deutsche Regierung bereit, zu investieren und gibt so viel Geld aus wie kein anderes EU-Land.
Wenn die EZB die Zinsen langsam anhebt, die Fed aber schnell, wie werden die Märkte mit dieser Divergenz umgehen?
Divergenz ist gut. Sie erlaubt Anpassungen. Der Wechselkurs Dollar-Euro passt sich an, hat sich nicht massiv bewegt, auch dank des Leistungsbilanzüberschusses, von dem Europa profitiert. Man kann mit so einer Divergenz also eine zeitlang leben. Und eine Folge ist auch, dass der europäische Markt mit einem Discount von 30 Prozent zu Aktien handelt. Aber europäische Unternehmen haben nicht 30 Prozent ihrer Ertragskraft verloren. Das Problem ist, dass als Erbe der Corona-Pandemie die Lieferketten gestört sind. Und nicht die Fähigkeit der europäischen Unternehmen, zu produzieren.
Dennoch sind Euro-Indices seit Anfang Jahr eher stärker zurückgekommen als die Aktienmärkte in den USA. Und dort bekommt man derzeit den Eindruck, das sogar Large-Cap-Tech-Gesellschaften wieder mehr gefragt sind. Weshalb geben Investoren den USA den Vorzug?
In den USA hat der Aktienmarkt davon profitiert, dass er weiter entfernt vom Ukraine-Konflikt ist, und er hat auch von der grösseren Energie-Selbständigkeit der USA profitiert. Und in Europa wird die Volatilität durch kurzfristige Befürchtungen ausgelöst - Inflation, Geldpolitik, Wachstum. Aber: Auch Europa hat einen guten Tech-Sektor, man hört nur weniger von ihm! Dieser profitiert davon, dass Regierungen massiv in digitale Eigenständigkeit investieren. Dann, in Zeiten, in denen der Ölpreis so steigt, sind natürlich erneuerbare Energien ein Thema. Die langfristigen Trends für europäische Unternehmen sind durch den Krieg in der Ukraine nicht geschwächt, sondern gestärkt worden. Marktberichte zeigen auch, dass es wieder stärkere Zuflüsse in den europäischen Aktienmarkt gibt.
Verstehe ich Sie richtig, dass ein Haupttreiber für die Märkte europäische Staatsausgaben sein werden?
Sowohl öffentliche als auch private Ausgaben. Regierungen wollten ja schon vor dem Beginn des Ukraine-Krieges investieren. Mit dem Ukraine-Krieg haben wir nach der Pandemie einen zweiten massiven Schock - und ich glaube, dass er eine Energie-Allianz innerhalb der Europäischen Union verstärkt. Daraus entstehen neue Handelsströme und neue Investitionen.
Sehen Sie Sektoren neben der Energiewirtschaft, die von diesen veränderten Positionen profitieren könnten, die Sie beschreiben haben, sei es innerhalb von Monaten oder Jahren?
Es ist eben genau jetzt wichtig, zwischen den 'nächsten Monaten' und den 'nächsten Jahren' zu unterscheiden. In den nächsten Monaten werden die Konsumentinnen und Konsumenten angesichts der noch immer bestehenden Unsicherheit über die Auswirkungen des Krieges, der höheren Inflation und des Kaufkraftverlustes einen Teil ihrer Ersparnisse, die auch aus der Pandemie stammen, für grundsätzlich wichtige Anschaffungen ausgeben: 'Need-to-Have'- und nicht 'Nice-to-Have'-Güter. Längerfristig aber wird auch mehr in digitale Güter, Technologie und auch in erneuerbare Energien investiert werden. Diese Sektoren werden damit unausweichlich.
Einige der Barings-Fonds mit europäischen Aktien sind im grösseren Stil in den Schweizer Pharmakonzern Roche investiert. Sehen sie Chancen für den europäischen Gesundheits-Sektor?
Gesundheit ist einer dieser 'Need-to-Have'-Sektoren. Es ergibt also viel Sinn, auch in Gesundheits-Unternehmen zu investieren.
Sie sprachen vorher über Unternehmen und Sektoren, die Nachschub-Probleme haben, aber bereit sind, zu liefern. Wenn man dies als grundsätzlich positive Situation beurteilen will - spricht dies dann auch für den Auto-Sektor, der bekanntlich unter Halbleiter-Lieferausfällen leidet? Ist der europäische Automobilbau stark?
Im Moment ist es ein heikler Sektor. Die Nachfrage in diesem Sektor wird wegen des höheren Ölpreises, der Lieferstörungen bei Chips und trotz der Unterstützung von Autofahrern durch Regierungen zurückgehen. Also ist Automotive derzeit nicht der attraktivste Sektor.
Auch nicht, wenn sich das Elektroauto auch bei europäischen Herstellern durchsetzt? Wäre dies ein Treiber für Automotive-Aktien? Wie bei Tesla?
Man kann so viele Elektroautos bauen, wie man will - man muss sie auch laden können. Was ich sagen will: E-Autos sind ein langfristiger Trend. Es braucht Zeit, wir müssen Geld haben. Wenn es passiert, wird es riesig und fantastisch sein. Und denken Sie daran: Tesla braucht zehn Mal mehr Chips als andere Industrieunternehmen.
Werden wir dieses Jahr ein Ende des Chip-Mangels sehen?
Die Pandemie ist nach China zurückgekehrt und führt zu schweren Restriktionen. China will zur Bekämpfung unbedingt Impfstoffe aus eigener Produktion verwenden und einen eigenen mRNA-Impfstoff entwickeln. Solange China seine Haltung in Bezug auf 0-Covid-Politik nicht ändert, werden Lieferengpässe als Folge der Pandemie anhalten - nicht nur bei Halbleitern, sondern auch bei anderen Teilen, die in China hergestellt werden. Dies ist aber in allen unseren Szenarien enthalten.
Um noch einen «heiklen» Sektor anzusprechen: Empfehlen Sie europäische Finanztitel wie Banken? Immerhin haben die Kurse seit Anfang Jahr doch ziemlich vom Zinserhöhungs-Fahrplan der Fed profitiert.
Der ganze Markt war Anfang Jahr mit Finanzaktien positioniert, weil man ja Zinserhöhungen durch die Notenbanken erwartete. Und genau, dies half den Aktien. Aber nun ist ein zweiter Aspekt hinzugekommen, der Gegenwind für Finanzaktien bietet: Mit dem Ukraine-Krieg und weiteren Lieferketten-Problemen steigen die Risiken im Zusammenhang mit notleidenden Krediten. Derzeit versuchen die Märkte abzuwägen, welcher Aspekt - Zinsen oder notleidende Kredite - der dominante sein wird. Ein leichter Rückzug aus dem Sektor hat bereits stattgefunden.
Agnès Belaisch ist Managing Director und Chefstrategin für Europa am Investment Institute des britischen Vermögensverwalters Barings. Die heutige Anlagegesellschaft Barings ist 1989 gegründet worden und ist eine Tochter der US-Versicherung Massachusetts Mututal Life Insurance Company (MassMutual), steht aber historisch in Verbindung mit der 1762 gegründeten, heute nicht mehr existierenden Barings Bank.