cash.ch: Die Schweiz bereitet sich auf eine allfällige Strommangellage vor. Würde es tatsächlich so weit kommen, dann müssten sowohl die Bevölkerung als auch die Unternehmen mithelfen, Strom zu sparen. Ist die aktuelle Situation so dramatisch?

Die Situation ist momentan noch nicht dramatisch. Der Strom ist derzeit vorhanden und die Versorgung sichergestellt. Die Politik muss jedoch langfristig aufzeigen, welche Lösungen es in einem Szenario von Stromknappheit gibt. 

Ein Sturm im Wasserglas?

Die in den Medien aufgenommene Thematik zeigt richtigerweise die Abhängigkeit der Schweiz von der EU auf. Diese Problematik hat sich nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen verschärft und stellt einen grossen Unsicherheitsfaktor dar. Schweizer Versorger haben weniger Transparenz, da ihre Sichtbarkeit in den europäischen Markt limitiert ist.

Inwiefern ist dies ein Nachteil?

Die fehlende Transparenz kann die Netzstabilität oder die Stromproduktion in der Schweiz kurzfristig beeinträchtigen. Die Unternehmen sind aufgrund der starken Verzahnung im Stromhandel mit der EU auf die höchstmögliche Visibilität angewiesen.

Was ist der Ausweg?

Die Schweiz versucht bereits mit einzelnen Ländern bilateral Lösungen zu suchen. Das ist aber aufwändig und der Ausgang noch unklar.

Die Schweiz ist kein Einzelfall. In China weitet sich die Stromkrise auf immer mehr Provinzen aus. In Europa spricht man von Systemkollaps durch Komplexitätsüberlastung. Warum ist Strommangel plötzlich ein globales Problem?

Es ist ein globales Problem, da die Wirtschaft ohne Strom nicht läuft. In China zeigt sich dies momentan dramatisch. Die Stromausfälle haben das Wirtschaftswachstum negativ tangiert. Es zeigt auf, was die Konsequenzen in Europa oder Schweiz sein könnten - falls es zu einer Stromknappheit kommt. In Europa wurde zusätzlich die Nachfrageseite unterschätzt. Viele sind davon ausgegangen, dass die Wiederbelebung nach der Coronakrise langsam von statten geht. Demzufolge wurden zu wenig Energiereserven aufgebaut. Dazu kam der kalte Winter, welcher die Lager ebenfalls schrumpfen liess.

Welche Rolle spielen die erneuerbaren Energien?

In Europa liegt der Fokus klar auf den erneuerbaren Energien, Windkraft und Solarenergie. Es haben sich mit dieser Energiepolitik strukturelle Schwächen aufgetan. Man will AKWs abschalten und aus Kohlekraftwerken aussteigen und gleichzeitig erneuerbare Energien fördern. Das ist sicher langfristig richtig, aber die Übergangsphase ist noch nicht wirklich geregelt. Bislang konnte diese entstehende Lücke nicht durch die erneuerbaren Energieträger kompensiert werden. In der Transformationsphase geht es nun mal nicht ohne Stolperer.

Wie können solche Stolperer weitgehend vermieden werden?

Man sieht aktuell, wie fragil die Systeme sind. Durch den Ausbau der erneuerbaren Energien schwanken die Systeme viel stärker. Denn diese können nicht laufend Strom liefern, da die Stromproduktion vom Wetter abhängig ist. Kurzfristig flexible Stromproduktionsquellen wie die Wasserkraft können diese Schwankungen aktuell kompensieren. Hier müssten bezüglich der Netzstabilität jedoch langfristig noch mehr Investitionen getätigt werden. Die Netzinfrastruktur muss den neuen Gegebenheiten angepasst werden. Hier ist aber die Politik gefragt. Sie muss die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Anreize schaffen, dass vermehrt Investitionen in die Netzinfrastruktur getätigt werden, um die Netzqualität aufrechtzuerhalten.

Der forcierte Ausbau der erneuerbaren Energien wie Windkraft und Solar geschieht auf Lasten der Netzstabilität. Werden wir als Folge in der Schweiz und Deutschland eine Renaissance der Atomenergie erleben?

Nein, das glaube ich nicht. In der Schweiz hat das Stimmvolk 2017 entschieden, dass keine neuen Atomkraftwerke gebaut werden sollen. In Deutschland sieht es mit der Regierungsbildung, in der die Grünen vermutlich Einsitz nehmen, nicht danach aus, dass vom Atomausstieg abgerückt wird. Vielmehr wollen die Grünen früher aus der Kohle als Energieträger aussteigen - bereits 2030 und nicht wie geplant 2038. Es könnte aber sein, wenn Engpässe in der Stromversorgung eintreten, dass die Abschaltungstermine der bestehenden Atomkraftwerke in der Schweiz nach hinten verschoben werden.

Seit Jahresbeginn haben sich die Grosshandelspreise für Strom in Europa stark verteuert. Pro Megawattstunde müssen für Lieferungen im Jahr 2022 mittlerweile weit über 100 Euro bezahlt werden. Anfang Jahr lagen die Preise noch bei 55 Euro und darunter. Was sind die Gründe? 

Einerseits sind die Rohwarenpreise angestiegen. Der Strompreis hängt stark von der Preisentwicklung beim Erdgas ab. In Europa waren im Gegensatz zu den USA die Lagerbestände zu tief, was auch auf den kalten Winter zurückzuführen ist. Zum anderen bestanden Anfang Jahr schwierige Wetterverhältnisse, was die Stromproduktion drosselte. Dieses verschmälerte Angebot traf wiederum auf eine starke Nachfrage, da die Wirtschaftserholung von der Corona-Krise im Frühjahr stark angezogen hat. Im Juli hat die europäische Kommission zudem das erste Paket des europäischen Grünen Deals vorgestellt – 'Fit für 55'. Die Energiewende wird damit verstärkt vorangetrieben. Dies hat den CO2-Preis in die Höhe getrieben, welcher ebenfalls ein Einflussfaktor für die höheren Strompreise war. Es gab aber auch lokale Aspekte, die den Strompreis beeinflusst haben. Beispielsweise sind in Deutschland die Gebühren, Abgaben und Steuern auf dem Strom gestiegen.

Rechnen Sie damit, dass der Strompreis längerfristig hoch bleiben wird?

In Europa dürften die Preise zumindest mittelfristig hoch bleiben, da sich der Preis für CO2 wegen der Energiewende aufwärts orientieren wird. Unklar ist aus heutiger Warte, wohin sich der Erdgaspreis entwickeln wird. Für die Schweiz spielt dieser aber keine grosse Rolle, da wir weniger abhängig von Erdgas sind.

Welche Versorger sehen Sie in der Poleposition, um von dieser Marktlage zu profitieren?

Im europäischen Umfeld ist der deutsche Versorger RWE interessant. Dieser befindet sich in einer Transformationsphase - weg von Kohle und Atomkraft hin zu erneuerbaren Energien. RWE investiert verstärkt in den Bereich Windkraft und Solarenergie. Das Unternehmen profitiert damit auch von der europaweiten Förderung der erneuerbaren Energien. Wir sehen ein Kurspotenzial von über 10 Prozent als realistisch an. In der Schweiz setzen wir auf BKW.

Dies, obwohl die Aktie von BKW dieses Jahr bereits 19 Prozent angestiegen ist?

Das Unternehmen liegt bei der Strategieumsetzung - zu einem Energiedienstleister - im Plan. Wir sehen BKW als nachhaltigen Dividendenwert. Die Dividendenpolitik des Unternehmens gefällt uns, da sie die Dividende aus dem operativen Geldfluss erwirtschaften können. Zudem werden RWE wie auch BKW mittelfristig von den höheren Strompreisen profitieren. 

Warum profitieren die Unternehmen nicht bereits jetzt von den höheren Preisen?

Die BKW tätigt beispielsweise auf drei Jahre hinaus gewisse Absicherungsgeschäfte. Dies erhöht die Planungssicherheit des Unternehmens, jedoch wirken sich die höheren Strompreise erst verzögert positiv aus. 

Mit den steigenden Inputkosten sehen Sie keine Verlierer?

Doch, der französische Versorger Engie ist im Gasgeschäft exponiert und wird von den regulatorischen Preisdeckelungen in Frankreich belastet. Die Unternehmen können somit den Anstieg der Inputkosten nicht eins zu eins weitergeben, was zu Lasten der Marge geht. Das gleiche sehen wir auch in Spanien. Eine gesamteuropäische Politik existiert aktuell nicht. Die Rahmenbedingungen für die Unternehmen unterscheiden sich damit von Land zu Land. Mittelfristig werden jedoch alle europäischen Versorger von den steigenden Energiepreisen profitieren, da sie die höheren Preise an die Kunden weitergeben werden. 

Warum sollten Anleger Versorger-Aktien in ihrem Portfolio berücksichtigen?

Versorger spielen insbesondere in unsicheren Wirtschaftslagen ihre defensive Qualität aus. Sie sind weniger schwankungsanfällig als zyklische Titel und geben dem Portfolio damit eine gewisse Stabilität. Die Dividendenrenditen sind im Marktvergleich ebenfalls attraktiv. Zudem werden sie langfristig von der steigenden Stromnachfrage profitieren. Diese wird auch von der Energietransition von herkömmlichen Automotoren hin zu Elektromotoren und der Elektrifizierung im Allgemeinen angetrieben. 

Angela Truniger ist seit 2017 Finanzanalystin bei der St.Galler Kantonalbank und für die Sektoren Kommunikationsdienste und Versorger verantwortlich. Sie verfügt über einen Bachelor (BSc) in Betriebsökonomie mit der Vertiefung Banking und Finance von der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ) und absolviert momentan die Ausbildung zum Master of Science in Banking and Finance an der Zürich Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).