Letzten Freitag hat der Euro zum ersten Mal seit dem 15. Januar die Grenze von 1,10 zum Franken übersprungen. Die Abwertung der Schweizer Währung gegenüber dem Euro begann im Juli und setzte sich, mit zwei kleinen Rücksetzern im August, bis heute fort: 

Entwicklung Euro-Franken-Kurs in den letzten drei Monaten (Grafik: cash.ch)

Von der Aufhebung der Kursuntergrenze Mitte Januar bis weit in den Juli hinein hätte man dies kaum für möglich gehalten – zumindest nicht, wenn man den Franken-Bullen unter den Devisenexperten glauben geschenkt hatte. 

Denn auffallend viele angelsächsische Banken schätzten noch im Sommer den Franken viel stärker ein, als er nun tatsächlich ist. Der Euro werde bis Ende Dezember dieses Jahres auf 1,01 Franken fallen, schrieb J.P. Morgan Ende Juni. Für die darauffolgenden drei Monate rechnete die britische Grossbank sogar mit einer Verletzung der Parität von eins-zu-eins und einem Abrutschen des Euro bis auf 0,98 Franken. Noch aggressiver war die Prognose von HSBC: Die britische Grossbank sah den Euro Ende Jahr bei 0,95 Franken. 

Möglich, dass diese Banken bei ihren Kunden nun etwas in Erklärungsnotstand geraten. Durchaus möglich auch, dass das Währungspaar Euro/Franken diese Kursniveaus noch erreichen wird. Wahrscheinlich ist es allerdings nicht.

Doch auch in der Schweiz gab es "bullische" Einschätzungen für den Franken – wenn auch nicht ganz so extrem. Die UBS rechnete noch im Juni damit, dass der damalige Kurs von 1,05 bis Ende Jahr bestand haben werde. Im August revidierte man diese Einschätzung und sprach von einer Drei-Monats-Prognose von 1,08.

Keine nachhaltige Abschwächung?

Tatsache ist: Die Franken-Abwertung hat viele Prognostiker auf dem falschen Fuss erwischt und für gehörige Prognose-Unsicherheit gesorgt. Mit dem Resultat, dass die Währungsprognosen Euro/Franken in diesem Jahr noch nie so auseinander driften wie jetzt. Die einen sehen den Franken zum Teil weiter deutlich abschwächen, die anderen halten die Franken-Aufwertung bloss für ein vorübergehendes Phänomen.

Zu Letzteren gehört stellvertretend für viele Thomas Stucki. Der Anlagechef der St. Galler Kantonalbank, der früher die gleiche Funktion bei der SNB innehatte, war und ist immer noch skeptisch, was den Euro-Franken-Kurs betrifft. Vorübergehend entwickle sich der Kurs zwar besser als erwartet, das sei aber keineswegs nachhaltig, sagt Stucki zu cash. "Der Anstieg in den letzten ein bis zwei Monaten kam eher überraschend, hat aber damit zu tun, dass der Euro gegenüber dem Dollar angezogen hat." 

Stucki schliesst zwar kurzfristig einen Kurs erneut über 1,10 nicht aus, Ende Jahr sieht er diesen aber bei 1,07 und im Frühling sogar wieder bei 1,05. "Das hängt damit zusammen, dass der Euro zum Dollar wieder schwächer wird, sobald die Fed im vierten Quartal ihre Zinsen erhöht", so Stucki.

Grundsätzliches spricht für den Franken

Es gibt weitere Argumente für einen Franken, der sich gegen den Euro wieder aufwertet. Etwa das Argument der Zinsdifferenzgeschäfte (so genannte Carry Trades), bei welchen Anleger Kredite in Tiefzinswährungen wie dem Franken aufnehmen und das Geld in höher verzinsten Währungen anlegen. Das schwächt zwar derzeit den Franken, solche Auswirkungen von Carry Trades sind in der Regel aber nicht nachhaltig. 

Für eine erneute Franken-Aufwertung könnte auch die Europäische Zentralbank (EZB) sorgen. In einer Bloomberg-Umfrage von dieser Woche rechnen über zwei Drittel der Teilnehmer damit, dass die EZB ihr Programm zur quantitativen Lockerung entweder ausweiten oder verlängern wird - was den Euro sicher abschwächen würde.

Für HSBC sprechen grundsätzliche Überlegungen für einen auch längerfristig starken Franken. Die Schweiz bleibe ein Land, das einen Leistungsbilanzüberschuss einfahre, über sehr gut ausgebildete Arbeitskräfte verfüge und eine stabile Politik habe. "Für solche Länder gibt es nur eine Option, und zwar eine stärkere Währung im Laufe der Zeit. Das ist der Fluch des Erfolgs in der heutigen Welt", begründete der Chef-Devisenstratege der HSBC, David Bloom, seine Franken-Aufwertungs-Prognose Ende Juni.

Die andere Seite: Die Franken-Bären

Es gibt auch die andere Fraktion, die der Franken-Bären. Die Luzerner Kantonalbank (LUKB) hält kurzfristige Vorstösse von 1,12 bis 1,13 für möglich, und im August sah die liechtensteinische VP Bank im kommenden Jahr die Zielmarke von 1,15 als realistisch. Es gebe aus ökonomischer Sicht kaum Argumente für eine erneute Aufwertungswelle des Franken, hiess es dort. Die Schweizer Wirtschaft, die im ersten Halbjahr ein Nullwachstum hingelegt hat, entwickelt sich in diesem und wahrscheinlich auch im nächsten Jahr schlechter als diejenige der Eurozone.

Die italienische Grossbank UniCredit sieht in einer jüngst veröffentlichten Studie noch viel Abwertungspotenzial beim Schweizer Franken: Bis Ende 2016 soll der Euro-Kurs bis auf 1,22 steigen. Damit läge der Kurs bereits nahe bei der von der SNB viel beschworenen Kaufkraftparität.

Die UniCredit spricht in der Studie, die cash vorliegt, von einer eigentlichen "Entzauberung" des Frankens. Der Mechanismus, mit welchem sich der Franken während Börsenturbulenzen aufwertet, sei nun gebrochen. Tatsächlich ist Franken, traditionell ein "sicherer Hafen" in unsicheren Zeiten,  während der Börsenturbulenzen in China, als sich die Schweizer Währung, gegenüber dem Euro ab- statt aufwertete.

Währungsprognosen sind schwierig

Vor allem Investoren, die in der Schweiz wohnen, hätten keinen so grossen Anreiz mehr, Geld in Krisenzeiten aus dem Ausland abzuziehen, so die Unicredit. Denn die inländischen Investitionsmöglichkeiten haben laut der italienischen Bank an Attraktivität verloren. Der Schweizer Aktienmarkt humple in diesem Jahr zum ersten Mal seit 2009 hinterher. Die SNB-Negativzinsen und negativen Renditen von Schweizer Staatsanleihen lüden auch nicht zum Investieren in der Schweiz ein. Deshalb wird sich, so die Unicredit, die Abwärtsbewegung des Schweizer Franken über Quartale fortsetzen.

Welches Lager, die Franken-Bullen oder -Bären, Recht haben wird, werden die nächsten Monat zeigen. Und wahrscheinlich wird sich auch dann eine alte Händlerweisheit bewahrheiten: Dass Devisenkurse noch schwieriger zu prognostizieren sind als Aktienkurse.