"Ich glaube, ich habe in den vergangenen vier Jahren fast jeden zweiten Tag einen Bericht oder ein E-Mail zum Thema Brexit geschrieben", zitiert die Nachrichtenagentur Bloomberg den 28-jährigen Jordan Rochester, der für die japanische Investmentbank Nomura arbeitet und den Kurs des Pound Sterling analysiert. 300 seiner Research-Berichte finden sich auf der Website des Finanzunternehmens. Sie alle drehen sich um wirtschaftliche Auswirkungen des geplanten Austritts der Briten aus der EU.

Die Brexit-Saga hat Anfang 2013 mit der Ankündigung eines Referendums durch den damaligen britischen Premierminister David Cameron begonnen. Am 23. Juni 2016 stimmte eine Mehrheit für den Austritt. Seitdem geht es drunter und drüber. Es wird viel diskutiert und gestritten, wie sich der Brexit auf die britische Wirtschaft auswirken wird.

Hauptgradmesser dabei ist das britische Pfund, das seit dem Referendum deutlich abgewertet hat. Im Gegenzug legten die Aktienkurse im Leitindex FTSE100 zu, weil dort zahlreiche exportorientierte Firmen von einer schwächeren Währung profitiert haben. Der FTS100 hatte vor der Abstimmung 6230 Punkte angezeigt und liegt im Moment bei 7688 Punkten. 

Im Schatten von «Boris»

Dieser Tage ist wieder massiv Bewegung in den inzwischen epischen Versuch gekommen, das Vereinigte Königreich irgendwie aus der EU herauszulösen. Vor weniger als einer Woche ist Boris Johnson Regierungschef geworden, der den Brexit definitiv am 31. Oktober durchziehen will – "do or die", wie er sagte, also notfalls "auf Biegen und Brechen". Das Pfund ist zum Dollar nach dem Amtsantritt von Boris Johnson weiter gesunken und liegt im Moment unter 1,22. Es ist die volatilste Währung eines westlichen Landes.

Dies, weil "Boris" auch ohne formelles Abkommen die EU verlassen will. Die Wahrscheinlichkeit eines so genannten "no deal Brexit" abzuschätzen, gehört zu Jordan Rochesters wichtigsten Aufgaben. Investoren in aller Welt wollen dies einfach wissen, auch wenn ihnen das Thema Brexit eigentlich nach mehr als drei Jahren verleidet ist. Nur, man kann eine solche Annahme kaum realistisch treffen.

Rochester schätzt die No-Deal-Wahrscheinlichkeit im Moment bei 30 Prozent ein, aber auch die Option, dass es gar keinen Brexit geben wird, liegt bei ihm bei 30 Prozent. Auf 40 Prozent schätzt er die Wahrscheinlichkeit ein, dass irgendeine Form von Abkommen zwischen London und Brüssel gefunden werden wird. Mit anderen Worten: Man kann eigentlich nach wie vor nur raten, wie es ausgeht.

Politikeraussagen analysieren ist nicht leicht

Das Problem ist, dass Rochester nicht nur Finanz- und Währungsanalyst ist, sondern auch die Rolle eines Politikexperten wahrnimmt. Er kennt alle Headlines und Aussagen der führenden Akteure des Brexit-Dramas. Dies hilft nur bedingt weiter, wie ein Kollege von Rochester zum Bloomberg sagte: "Was Politiker sagen und was sie letzten Endes tun kann komplett verschiedene Marktauswirkungen haben."

Keiner von Rochesters Kollegen bestreitet, dass er sehr viel über den Brexit weiss. In einigen Fällen sagte er Ereignisse richtig voraus, zum Beispiel im Juni 2017, als Theresa May als Regierungschefin mit ihrer Konservativen Partei mit den Wahlen die Parlamentsmehrheit verlor. Aber er lag auch komplett falsch, als er 2018 einen Anstieg des Pfunds auf 1,46 Dollar prognostizierte. Der Kurs lag zum Jahresende bei 1,2754. Auch bei Zinsschritten der Bank of England hat er schon danebengelegen.

Sollte Boris Johnson den Brexit im Laufe des Jahres durchziehen, warten auf Rochester schon die nächsten Aufgaben. Dann muss er abschätzen, ob sich Schottland für unabhängig erklären wird, oder wie sich eine mögliche Regierung unter dem stark linksgerichteten Labour-Chef Jeremy Corbyn auf Wirtschaft und Währung auswirken würde.