Gazprom hat es schon mehrmals gemeldet: Die Durchflüsse von Gas nach Westeuropa laufen laut dem staatlichen russischen Energiekonzern normal. Auch die Pipelines in der kriegsversehrten Ukraine transportieren weiter Gas. Russland ist zwar seit dem Angriff auf die Ukraine das meistsanktionierte Land der Welt. Der Bodenschatz Erdgas ist aber weiter gefragt, und der Westen will Unternehmen und private Haushalte nicht abrupt von diesem extrem wichtigen Energieträger abschneiden. 40 Prozent des Erdgases in der EU wird von Russland bezogen. 

Diese Abhängigkeit soll angesichts der Kriegsschrecken reduziert werden, doch ist noch gar nicht klar, wie. Ein unmittelbarer Gas-Boykott gegen Russland ist unwahrscheinlich und wurde beispielsweise vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz auch ausdrücklich abgelehnt. Allerdings hat Russland schon mehrfach gedroht, die Pipelines nicht mehr zu füllen. Wie wahrscheinlich ein solcher Schritt ist, lässt sich angesichts der weiter unübersichtlichen Lage in diesen Krieg herum nicht genau sagen.  

Das Bonitäts- und Kreditresearch-Unternehmen Independent Credit View (ICV) hat auf Basis des "worst case", also einem Lieferstopp von russischem Gas, die Auswirkungen auf Unternehmen analysiert. Betroffen wären in Europa die Versorger und Energieunternehmen. Gasversorger wie EDF, Engie, Fortum, Uniper oder Eustream hätten ein unmittelbares Problem. Sie wären dem Problem einer sofort notwendigen Ersatzbeschaffung ausgesetzt, die nicht einfach zu bewerkstelligen wäre. Die Reaktion auf einen Gas-Stopp dürften aber auch schnelle Staatshilfen für betroffene Unternehmen sein. In einer vorteilhaften Position in diesem Punkt sieht ICV die Unternehmen E.on oder Italgas. 

Negativ betroffen wären wegen eines hohen Russland-Exposures auch die Energieunternehmen BP, ENI und Wintershall Dea. Gewinner wären hingegen - ein Grund dafür ist die Wahrscheinlichkeit steigender Ölpreise - die Ölkonzerne Equinor oder Shell. Steigende Rohstoffkosten dürften auch einem Bergbaukonzern wie BHP nützen. 

ICV sieht aber auch Branchen wie die Chemie, die Metallverarbeitung, sowie die Verpackungs- und Versorgungsindustrie als stark betroffen an. Als Betroffene von steigenden Inputkosten nennt ICV neben dem Schweizer Chemieunternehmen Clariant auch den deutschen BASF-Konzern oder den britischen Chemiekonzern Ineos. 

Auch die Baustoffindustrie wäre von steigenden Inputkosten betroffen, wenn plötzlich kein Gas mehr fliesst. ICV geht aber davon aus, dass auch eine zusätzliche Infrastrukturnachfrage entstünde. Neue Bezugsquellen und Transportwege für Energieträger werden notwendig, und dies führt zu neuen Investitionen in die Gasspeicherinfrastruktur. Zudem dürfte es einigen Unternehmen gelingen, die Kosten weiterzugeben. Als Gewinner einer solchen Entwicklung sieht ICV den Zementkonzern Holcim

Mit Blick auf Anleihenschuldner empfiehlt ICV Unternehmen mit soliden Geschäftsprofilen, guter Preissetzungsmacht und soliden Bilanzen. Diese würden einem Gasschock und einer darauf folgenden Rezession besser standhalten als bereits angeschlagene Unternehmen. 

Aus Aktiensicht bestehen um beide in der ICV-Analyse genannten Schweizer Unternehmen Unsicherheiten: Holcim erntet zwar immer wieder Lob wegen der Bemühungen mehr Klimaschutz bei Produktion und Einsatz von Baustoffen sowie auch der starken Marktstellung als weltgrösster Zementkonzern, steht aber wegen der unsicheren makroökonomischen Lage unter Beobachtung. Clariant hat im Februar wegen einer möglichen Falschverbuchungen einen Rückschlag erlitten. Beobachter bemängeln Schwächen in der Firmenkultur.

(cash)