Optimisten sprechen von einem historischen Durchbruch im Kampf gegen Steuervermeidung. Weltkonzerne wie Amazon, Facebook und Apple - allesamt Gewinner der Corona-Krise - sollen künftig stärker zur Kasse gebeten werden. Allerdings haben unter dem Dach der Industriestaaten-Organisation OECD nicht alle Länder mitgezogen, was Unternehmen weiterhin Möglichkeiten geben dürfte, Gewinne in Niedrigsteuerländer zu verschieben. Ausserdem gibt es Ausnahmen für bestimmte Branchen - zu viele, wie Kritiker meinen. Ob die Reform wirkt, dürfte sich erst in den nächsten Jahren zeigen.

Warum sind Änderungen überhaupt nötig?

Die Steuerregeln passen nicht mehr zum Digitalzeitalter. Viele Unternehmen - besonders die Internet-Riesen - haben in Ländern, in denen sie prächtig Geld verdienen, keine physische Präsenz mehr - also etwa Fabriken wie klassische Industriekonzerne. Ihre Gewinne basieren auf Patenten, Software und Lizenzeinnahmen. Diese haben sie aber in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr in Niedrigsteuerländer verschoben. So zahlen die grössten Konzerne der Welt oft deutlich weniger Steuern als etwa ein Mittelständler oder der Bäcker von nebenan. Und Länder mit riesigen Bevölkerungen - Indien und Brasilien zum Beispiel - sind für grosse Konzerne wichtige Märkte, ihre Steuern zahlen sie aber in Irland oder auf den Kanal-Inseln.

Wie soll das nun geändert werden?

Für Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mindestens 750 Millionen Euro soll künftig eine effektive Mindeststeuer in Höhe von 15 Prozent gelten. Jede Regierung kann zwar weiterhin ihre eigenen Sätze festlegen. Zahlt ein Konzern im Ausland aber beispielsweise nur zehn Prozent, könnte das Heimatland des Unternehmens die Differenz zur Mindeststeuer verlangen.

Besonders grosse und profitable Unternehmen - mit einem Jahresumsatz von mindestens 20 Milliarden Euro und einer Ertragsmarge von mehr als zehn Prozent - sollen stärker als bisher in den sogenannten Marktstaaten Steuern abliefern. Das sind oft Schwellenländer. Die Marge soll berechnet werden als Vorsteuergewinn im Verhältnis zum Umsatz. Bei der Umsatzschwelle soll, sieben Jahre nach Inkrafttreten der Neuregelung, geprüft werden, ob es sinnvoll ist, sie von 20 auf zehn Milliarden Euro abzusenken. Insidern zufolge gibt es für Amazon eine Sonderregelung, weil der Online-Händler als Ganzes nicht profitabel genug ist - einzelne Segmente aber beide Kriterien erfüllen.

Wie viele Konzerne werden betroffen sein?

Bei der Mindeststeuer werden es Experten zufolge weltweit 7000 bis 8000 Firmen sein. Bei der Neuverteilung von Besteuerungsrechten zwischen den Ländern soll die technisch komplizierte Regelung auf rund 100 Konzerne beschränkt werden. Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, schätzt, dass die Mindeststeuer in Deutschland einige Hundert Unternehmen betreffen wird. Steuerexperten gehen davon aus, dass es bei den Besteuerungsrechten hierzulande weniger als zehn Grosskonzerne sein werden.

Gibt es Ausnahmen?

Ja. Bei der Mindeststeuer sind internationale und gemeinnützige Organisationen sowie bestimmte Pensionsfonds und auch Investmentfonds von Grosskonzernen ausgenommen. Auch Gewinne aus dem Geschäft mit Containerschiffen werden ausgeklammert. Ausnahmen gibt es auch für Länder, die eine gewisse Substanz an Unternehmensaktivitäten vorweisen können, also bestimmte Wirtschaftsgüter vor Ort haben und Beschäftigte im Land. Für Steueroasen reichen die Ausnahmen Insidern zufolge nicht, wohl aber für einige bislang skeptische EU-Länder. Ausnahmen für die Finanzbranche sind bei der Mindeststeuer nicht vorgesehen.

In der anderen Säule - bei der Besserstellung von Marktstaaten - ist auf Druck von Grossbritannien die Finanzbranche aber ausgenommen. Experten argumentieren, anders als die grossen Internetfirmen werden Banken vor Ort etwa in China und Indien bereits streng reguliert und damit auch besteuert. Ausgenommen sind auch Rohstoffe, weil Unternehmen hier immer auch Wirtschaftsaktivitäten vor Ort haben.

Wie werden die Ausnahmen bewertet?

Grünen-Finanzpolitikerin Lisa Paus sprach zuletzt von einem "Schweizer Käse mit riesigen Löchern". Besonders ärgerlich seien die Ausnahmen für die Finanzbranche. "Gerade Banken sind in den letzten Jahren immer wieder negativ durch Gewinnverschiebung aufgefallen." Die Finanzbranche sieht dies naturgemäss anders.

Welche Länder sind nicht an Bord?

Von den 140 Ländern, die zuletzt unter dem OECD-Dach am Verhandlungstisch sassen, haben vier nicht unterschrieben: Kenia, Nigeria, Pakistan und Sri Lanka. Die drei besonders skeptischen Länder aus Europa - Irland, Estland und Ungarn - sind dagegen jetzt alle an Bord. Insidern zufolge wurden sie mit Ausnahmen und Übergangszeiten geködert. Mit den drei Staaten dürfte es leichter werden, einstimmig eine entsprechende Richtlinie in der EU zu verabschieden, heisst es in deutschen Regierungskreisen. "Das ist ein erheblicher Fortschritt." Von den 20 führenden Industrie- und Schwellenländern (G20) habe es am Freitag aber erst in letzter Minute Einigkeit zur Steuerreform gegeben, sagt ein deutscher Regierungsvertreter. Im Umfeld der OECD heisst es, Indien habe erst spät seine Bedenken zurückgestellt.

Ab wann soll die Reform greifen?

Nachdem viele wichtige Details nun geklärt sind, sollen die Regeln 2022 in Gesetzestexte gegossen werden. Die Neuregelung würde dann ab 2023 gelten. Dieser Zeitplan gilt allerdings als sehr ambitioniert und könnte noch nach hinten verschoben werden. Digitalsteuern in einzelnen Ländern müssen dann zurückgenommen werden. Damit soll ein Flickenteppich vermieden werden, ebenso wie Doppelbesteuerungen.

Mit wie viel Mehreinnahmen wird gerechnet?

Die OECD rechnet bei der Mindeststeuer von 15 Prozent mit Mehreinnahmen von rund 150 Milliarden Dollar pro Jahr. Bei der anderen Säule - der Verteilung von Besteuerungsrechten - sollen die Marktstaaten zusätzlich mehr als 125 Milliarden Dollar pro Jahr vom Steuerkuchen abbekommen - 25 Milliarden mehr als noch im Sommer angepeilt.

Das Bundesfinanzministerium hat noch keine genauen Berechnungen für Deutschland. Am Ende sei aber mit mehr Steuereinnahmen zu rechnen, sagte Finanzminister Olaf Scholz zuletzt. Experten gehen davon aus, dass bei den Besteuerungsrechten Deutschland unter dem Strich nicht verlieren wird. Die Mindeststeuer von 15 Prozent würde laut Berechnungen der EU-Steuerbeobachtungsstelle, einem unabhängigen Analysehaus, Deutschland pro Jahr 5,7 Milliarden Euro zusätzlich einbringen. Dies gilt unter Steuerexperten als Untergrenze. Es könnten auch zehn bis 20 Milliarden Euro werden. Für die gesamte Europäische Union geht die EU-Steuerbeobachtungsstelle von fast 50 Milliarden Euro zusätzlich aus. Grösster Gewinner dürften aber die USA sein, weil heimische Konzerne wie Amazon, Apple und Google Steuersparmodelle im Ausland besonders aggressiv nutzen und nationale Digitalsteuern dann der Vergangenheit angehören.

(Reuters)