"Die stärkste Folge der Ukraine-Krise ist klar die menschliche Tragödie, die sie auslöst", schreibt Mirabaud-Analyst John Plassard in einem Marktkommentar. Wirtschaftlich gesehen treffe der Konflikt den Energiehandel, aber darüber hinaus auch Sektoren, über die viel weniger gesprochen werde.

Diese würden aber "unweigerlich" auch westliche Volkswirtschaften betreffen, wenn der Konflikt noch lange andauere. Und genau dies, eine langanhaltende Krise um das angegriffene Land Ukraine, ist inzwischen ein realistisches Szenario vieler Experten - wirtschaftlicher, politischer oder militärischer. 

Guterverkehr von China nach Europa

Einen erheblichen Einfluss sieht Plassard bei den Transportwegen. Während Flugzeuge wegen des riesigen russischen Luftraums bereits längere Strecken in den Osten Asiens fliegen müssen, beeinflusst der Konflikt auch die Bahnverbindungen. Der grösste Teil des Güterverkehrs zwischen China und Europa geht über Russland und Weissrussland, aber ein Teil läuft auch über ukrainisches Gebiet.

Das Risiko besteht, dass diese Transportrouten unterbrochen werden. Plassard geht sogar so weit, grössere Verwerfungen zu vermuten: "China braucht die EU als Unterstützung im wirtschaftlichen Gegenwind, in dem es steht, aber dieser Konflikt könnte die Beziehung zur EU zerrütten." 

Die weltweiten Lieferketten erfahren durch die Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Schiffsrouten Probleme. Der Krieg wütet direkt in ukrainischen Häfen wie etwa Mariupol am Asowschen Meer. Laut dem Handelsinformationsunternehmen Lloyd’s List Intelligence waren an der Kerch-Strasse, die das Schwarze Meer mit dem Asowschen Meer verbindet, über 200 Schiffe auf die Durchfahrt.

Die grössten Reedereien der Welt, die dänische Maersk und die italienisch-schweizerische MSC steuern auch keine russischen Häfen mehr an. Lebensmittel sollen aber bis auf weiteres nach Russland befördert werden. 

Weizen aus der Ukraine und Russland

Plassard sieht einen unterschätzten Wirtschaftsfaktor in dieser Krise gerade bei Lebensmitteln. Laut dem Food Price Index der UNO und der Welternährungsorganisation FAO haben die internationalen Preise für Lebensmittel bereits 2021 einen Sprung um 28 Punkte auf 126 Punkte genommen. Einen Rückgang erwarteten die Experten dieser Organisationen schon vor der Eskalation der Ukraine-Krise nicht.

Nun wird das Bild noch verkompliziert, etwa angesichts der Tatsache, dass die Ukraine und Russland über einen Viertel der weltweit exportierten Weizen anbauen und die Ukraine allein für rund die Hälfte des gehandelten Sonnenblumenöls steht. Die Ukraine war einst "die Kornkammer der Sowjetunion" und heute könnte man von einer "Kornkammer Europas" sprechen. 

Weizen und Sonnenblumenöl sind Grundstoffe für unterschiedliche Lebensmittel. Sollte etwa in der Ukraine der Anbau und die Verarbeitung dieser Produkte ins Stocken geraten, wäre es auf dem Weltmarkt nicht ganz einfach, Ersatz zu finden. Die grössten Importeure ukrainischer und russsicher Weizen sind Ägypten, die Turkei, Bangladesh und Indonesien. 

Konflikte beeinflussen Lebensmittelpreise

Dazu kommt, dass der weltgrösste Exporteur von Düngemitteln Russland ist. Plassard zitiert auch Daten, die zeigen, dass Konflikte immer ein Faktor bei steigenden Lebensmittelpreisen darstellten. In 113 afrikanischen Märkten habe zwischen 1997 und 2010 ein Zusammenhang zwischen höheren Preisen und politischer Gewalt bestanden. Auch gibt es Studien, die zeigen, dass Konflikte gegenüber Dürren zunehmend der wichtigere Faktor bei Preisentwicklungen sind. 

Ein grösseres Thema waren vor der Zuspitzung der Krise vergangene Woche bereits die Rohstoffvorkommen in Russland über Erdgas und Öl hinaus gewesen. Laut Plassard liegt Russlands Anteil an den weltweit gehandelten Metallen oder Seltenen Erden unter 5 Prozent.

Chip-Laser brauchen Neongas

Allerdings beliefert Russland fast den gesamte Nachfrage an schwefelarmen Zusatzstoffen für Kohle und 60 Prozent der Kohle selbst - ein Grund also, der die EU vor Kohle-Sanktionen gegen Russland zurückschrecken lässt. Eine bereits von Nachschubproblemen geplagte Industrie, die Halbleiterherstellung, ist ebenfalls dem Ukraine-Konflikt und den Sanktionen gegen Russland ausgesetzt. 

Die Ukraine liefert etwa 70 Prozent des weltweit gehandelten Gases auf der Basis des chemischen Elements Neon. In bearbeiteter Form ist dieses wichtig für die Chip-Herstellung. Laser, die Netzmuster auf Silicon-Wafer auftragen, arbeiten mit Neon. Die Rolle, welche die Ukraine - aber auch Russland - am weltweiten Nachschub von Neon spielen, ist jahrelang kaum ein Thema gewesen. "Nach Russlands Annexion der ukrainischen Region Krim 2014 ging das Neon-Angebot zurück, und die Preise zogen an", schreibt Plassard. Laut Citi Research würden die Chiphersteller über Neon-Vorräte für etwa acht Wochen verfügen. 

(cash)