Der breite US-Aktienindex S&P 500 hat gegenüber dem Rekordhoch im Januar einen Rückgang um deutlich mehr als 20 Prozent erlitten, womit das Börsenbarometer nach gängiger Definition einen Bärenmarkt signalisiert. Der Technologieindex Nasdaq 100 hat seit seinem Höchststand im vergangenen November sogar 31 Prozent an Wert eingebüsst.

Börsenteilnehmer fragen sich zunehmend, wann der Tiefpunkt dieser Abwärtsbewegung erreicht ist und sie wieder zukaufen können. Nach Ansicht der Bank of America sollten sich die Anlegerinnen und Anleger auf weitere "Trübsal" einstellen. In einer Mitteilung vom Dienstag sagte die US-Grossbank, dass die weiterhin steigende Inflation und die bevorstehenden Zinserhöhungen der US-Notenbank Fed wahrscheinlich zu einer anhaltenden Volatilität am Aktienmarkt führen werde. 

Die Fed könnte bereits am Mittwoch den Beweis vorlegen, dass es ihr mit der Inflationsbekämpfung wirklich ernst ist. Es wird erwartet, dass die Fed die Zinssätze um 75 Basispunkte anhebt, was mehr ist als die zuvor prognostizierte Zinserhöhung von 50 Basispunkten. Die deutliche Verschiebung erfolgt, nachdem der Anstieg bei den Konsumentenpreisen am Freitag die Schätzungen der Ökonomen übertraf und keine Anzeichen für eine Abkühlung zeigte. 

Die grosse Anlegerfurcht ist auch anhand des "Fear and Greed" Index des US-Senders CNN. Im Moment zeigt dieses Sentiment-Barometer 17 Punkte an, was "extreme Furcht" bedeutet. Ein gutes Zeichen? "Sei gierig, wenn andere ängstlich sind", so lautet eines der berühmtesten Börsen-Bonmots von der Investorenlegende Warren Buffett. Man darf sich nicht von Stimmungen am Markt treiben lassen, sondern im Gegenteil, muss dann zugreifen, wenn der Aktienkurs von guten Unternehmen durch Angst stark gedrückt worden ist.

Höhepunkt bei der Inflation muss ersichtlich sein

Doch in der aktuellen Marktlage ist wohl weiter Zurückhaltung angebracht: "Die Stimmung an der Wall Street ist schlecht. Aber es gibt kein grosses Tief bei den Aktien, bevor es ein grosses Hoch bei den Renditen und der Inflation gibt, und letztere erfordern restriktive Zinserhöhungen der Fed im Juni und Juli", so die Bank of America. 

Die Bank of America ist nicht die einzige gewichtige Marktstimme, die der Meinung ist, dass Aktien erst dann ihren Tiefpunkt erreichen werden, wenn der Höhepunkt bei der Inflation ersichtlich ist. Trotz des diesjährigen Ausverkaufs des S&P 500 seien die Aktienbewertungen noch lange nicht im Keller, so beispielsweise Goldman Sachs. Die überraschend starken Inflationsdaten zeigten, "dass der Kampf der Fed gegen die Inflation die Aktienbewertungen gedeckelt hat."

Während in den USA die Inflation im Mai ein neues 40-Jahres-Hoch erreicht hat, fiel denn auch die Konsumentenstimmung Anfang Juni auf den niedrigsten Stand seit 1978. "Der Stimmungseinbruch stellt nicht nur aus Nachfragesicht ein Risiko für die Wirtschaft und den Markt dar, sondern hält die US-Notenbank in Verbindung mit den am Freitag veröffentlichten Verbraucherpreis-Zahlen auch auf einem aggressiven Kurs zur Inflationsbekämpfung", so Morgan Stanley.

Die düstere Stimmung an der Wall Street ist darauf zurückzuführen, dass der globale Wachstumsoptimismus auf ein Allzeittief gesunken ist, die Stagflationsängste auf den höchsten Stand seit 2008 gestiegen sind und sich die Gewinnaussichten der Unternehmen auf den schlechtesten Stand seit 2008 verschlechtert haben. Dies geht aus der jüngsten Umfrage der Bank of America unter Fondsmanagern hervor.

Geschichte: Bärenmarkt könnte länger dauern

Ein Blick auf die Geschichte der Bärenmärkte zeigt, dass die Bank of America mit ihrer Einschätzung richtig liegen könnte. Denn eine V-förmige Erholung, wie sie im März 2020 zu beobachten war, ist eher die Ausnahme als die Regel. Chris Murphy, Stratege beim Finanzdienstleister Susquehanna International, analysierte in einer Mitteilung an die Kunden am Dienstag alle 12 Bärenmarktausverkäufe, die seit 1945 stattgefunden haben. 

"Wenn wir uns die anderen 12 Bärenmärkte ansehen, stellen wir fest, dass der S&P 500 nach dem Eintritt in den Bärenmarkt im Durchschnitt um weitere 14 Prozent fällt und 103 Handelstage benötigt, bevor er einen Boden erreicht", sagte Murphy. Zugleich fügte der Stratege hinzu, dass der Aktienmarkt, wenn das historische Muster beibehalten wird, erst Anfang November einen potenziellen Boden erreichen würde. Ein Rückgang dieses Ausmasses würde den S&P 500 um 13 Prozent auf etwa 3250 Punkte fallen lassen.

Dafür, dass der Aktienmarkt erst im November aus der Talsohle herauskommt, gibt es zwei weitere Argumente: Die Märkte erreichen in den handels- und volumenarmen Sommermonaten selten eine Talsohle und die Anlegerinnen und Anleger können wohl erst nach den US-Zwischenwahlen Anfang November wahrscheinlich aufatmen. 

Wenn es den Republikanern gelingt, die Kontrolle über das Repräsentantenhaus oder den Senat zu erlangen, könnten die Anleger optimistischer werden. Dies, da sich der Aktienmarkt im Durchschnitt immer dann am besten entwickelt hat, wenn die Macht zwischen Republikanern und Demokraten aufgeteilt war, wie Daten vom Broker LPL Financial zeigen. "Denken Sie daran, dass eine Pattsituation gut ist, da sie die Politik zu Kompromissen zwingt und Extreme vermeidet", so Marktstratege Ryan Detrick von LPL.

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