Während russische Panzer am Dienstagmorgen in die Ukraine rollten, tat die Börse das, was sie bei solchen Meldungen immer tut: Sie reagierte mit einem erneuten Kursrutsch auf äussere Ereignisse, auf die sie bereits wochenlang mit Volatilität reagiert hatte. Anders gesagt: Die Gefahr eines Kriegs im äussersten Osten Europas ist seit Wochen eine reale Gefahr. Jetzt, wo es ernst geworden ist, sind die Kurse noch einmal gefallen.

In der Nacht stürzten die Futures ab, dann die Kurse. Der SMI liess im frühen Handel um 1 Prozent nach, wobei er sich bis zum Börsenschluss ins Plus bewegte. An der Wall Street belastet der Ukraine-Konflikt nach dem Börsenstart den Handel ebenfalls. Das Muster ist bekannt - während die Aktienkurse fallen, bleiben "haven assets" wie der Schweizer Franken oder Gold gefragt.

Aus Sicht der Finanzmärkte kann noch keine Entwarnung gegeben werden. Vor dem Hintergrund der weiter unübersichtlichen Lage sei es voreilig, den Tiefpunkt an den Märkten bereits auszurufen, schreibt Chistoph Schmidt, der beim Fondshaus DWS das Multi-Asset-Total-Return-Team leitet. Aber: "Für Panik besteht allerdings genauso wenig Anlass." Eine von Schlagzeilen getriebene Volatilität bleibe wohl vorerst bestehen. 

Eine weitere Belastung ist dazugekommen

Dazu steigt der Ölpreis - auch mit Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Für die Nordseesorte Brent wurden am Dienstag in der Spitze über 99 Dollar pro Fass bezahlt. Die Krise um die wichtigen Öl- und Gasförderländer Russland und Ukraine hat den Preisschub verstärkt, der sich seit Anfang Jahr auf ein Plus von 22 Prozent summiert. 

Der Ölpreis in den vergangenen zwölf Monaten (Grafik: cash.ch).

Dies alles geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem eine stark anziehende Teuerung zahlreiche westliche Volkswirtschaften beschäftigt und die Notenbanken in einen Zinserhöhungszyklus treibt. Zur Bewertungskorrektur am Aktienmarkt ist eine weitere, geopolitische Belastung hinzugekommen. 

Wie sich die Situation für die Finanzmärkte weiterentwickelt, hängt in den nächsten Tagen von den Motiven des russischen Präsidenten Wladimir Putin ab, der manchen immer noch ein Rätsel ist und der für seine skrupellose, aber auch trickreiche Politik bekannt ist: Gibt er sich mit der Kontrolle über Separatisten-Gebieten in der Ost-Ukraine zufrieden? Oder geht der Konflikt militärisch weiter? In Westeuropa glaubt - oder hofft - man noch auf ersteres. In Washington, London oder Warschau aber kann man sich gut vorstellen, dass es zur Invasion kommen wird. 

Gibt es Sanktionen bei Öl und Gas? 

Die Antwort des Westens auf den russischen Bruch von internationalem Recht sind Sanktionen. Während dies durchaus einzelne Unternehmen betrifft, die in Russland Geschäfte machen, wird das Vorgehen des Westens gegen russische Wirtschaftsinteressen zunächst keine grossen Folgen für die Weltkonjunktur haben. Dies wäre anders, wenn die Lage weiter eskalieren würde, beispielsweise in der Form eines russischen Angriffs auf die Ukraine von Weissrussland aus, oder gar in der Form von Truppenbewegungen in Richtung der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Am Dienstagmittag hat Deutschland die Zertifizierung der Ostsee-Gaspipeline "North Stream 2" von Russland nach Westeuropa auf Eis gelegt. Solange die Lage nicht weiter eskaliert, sind Sanktionen bei Energieträgern aber kein grösseres Thema: "Wir vermuten, dass weder der Westen noch Russland viel Appetit darauf haben, den Energiehandel einzuschränken", schreiben Analysten des Londoner Research-Hauses Capital Economics.

Die Lage bleibt aber unübersichtlich. Die Diplomatie hat mit den russischen Angriffen einen Dämpfer erlitten, die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung besteht aber weiter. Zwar würden Sanktionen zum Beispiel russische Technologie-Importe klar treffen - wobei dies umstritten ist, denn Russland verfügt über wichtige Rohstoffe wie Titan, Palladium oder, zusammen mit der Ukraine, Neon und kontrolliert so einen Teil des Angebots. Putin hat es zudem teilweise geschafft, das Land gegen Sanktionen unempfindlich zu machen. Dies weiss auch der Westen. Deswegen ist ein Deal, durchaus auch zulasten der Ukraine, weiterhin möglich. 

Die Abhängigkeit der EU-Länder von russischer Nachfrage (Grafik: Bloomberg).

Die angespannte Lage bei den Energiepreisen ist indessen noch nicht vorbei. Durch den Einfluss, den die kriegerischen Vorgänge auf ukrainischem Gebiet auf die Energiepreise haben, kann die Weltwirtschaft durchaus noch getroffen werden. "Sollte es zu einem Gaspreisanstieg kommen, droht von dieser Seite zusätzlicher Inflationsdruck", sagt Thomas Gitzel, Chefökonom der VP Bank.

Der erwartete Rückgang der Inflation könnte sich kurzfristig durch einen Höhenflug des Ölpreises verzögern: "Die Frage ist, ob der Konflikt inflationär wirkt", sagt Anastassios Frangulidis, Chefstratege von Pictet Asset Management. In der längeren Frist würde ein höhererer Ölpreis wegen der negativen volkswirtschaftlichen Folgen indessen deflationär wirken und die bisher robuste Erholung in Europa gefährden: "Für europäische Länder oder auch Japan, die Öl im grossen Stil importieren, bedeutet ein höherer Ölpreis einen wirtschaftlichen Einkommensverlust."

Mehrere Faktoren sprechen für Entspannung

Der Fixpunkt für die Finanzmärkte bleibt letztlich ein anderes Thema. Am 16. März gedenkt die Federal Reserve den Leitzins anzuheben, voraussichtlich um 0,25 Prozentpunkte. Die Märkte haben sich drauf eingestellt: "Sechs Zinserhöhungen sind für dieses Jahr eingepreist, wobei auch vorstellbar ist, dass es nur fünf sein werden", sagt Pictet-Stratege Frangulidis. Sollten ab März nicht erneut überraschend hohe Inflationszahlen gemessen werden, dürfte mit dem Fed-Zinsschritt die Volatilität am Aktienmarkt zurückgehen und dies die Chance auf steigende Aktienkurse mit sich bringen.

Kommt es nicht zu einer veritablen russischen Invasion in der Ukraine, wird die unmittelbare geopolitische Eskalation bis in drei Wochen entschärft sein. Für die Finanz- und Rohstoffmärkte würde damit etwas Stabilität zurückkehren. Die Rohstoffexperten von Capital Economics erwarten auch eine Entspannung beim Ölpreis, weil es ihrer Meinung nach nicht zu Energie-Sanktionen gegen Russland kommen wird. Ungefähr zu diesen Zeitpunkt könnte zudem die Aussicht auf ein neues Atomabkommen zwischen westlichen Mächten und Iran dem Unsicherheitsfaktor Ölpreisanstieg entgegenwirken. 

Dies alles bedeutet noch nicht die Abwesenheit kriegerischer Handlungen im Konfliktgebiet. Die Situation in der Ukraine wird wohl noch einige Zeit ein weitreichendes humanitäres, völkerrechtliches und geopolitisches Problem bleiben. Die Finanzmärkte könnten sich aber schon in wenigen Wochen wieder anderen Themen zuwenden. "Politische Börsen" haben, wie es so schön heisst, eher kurze Beine. Fundamentalaspekte wie das Zinsniveau definitiv nicht.