Der Technologiekonzern ABB hat sich am Investorentag im italienischen Frosinone vom letzten Donnerstag hinsichtlich Umsatzwachstum und operativer Gewinnmarge ehrgeizigere Ziele gesetzt. Die Reaktion an der Börse war dementsprechend positiv, so dass sich die Aktien wieder dem bisherigen Jahreshoch von 35,74 Franken angenähert haben. Ein Kursniveau, das zuvor letztmals 2007 bestand, also vor 16 Jahren.

«Die neuen Finanzziele von ABB sind konsistent, ehrgeiziger als zuvor und von Zuversicht geprägt. Der Konzern hat zuletzt aufgrund der Margenverbesserung eine gute Basis geschaffen, um von dort profitabel weiter zu wachsen», ordnet Bernd Laux, Analyst bei der ZKB, auf Anfrage von cash.ch die neuen Zielvorgaben ein.

Die Aktien von ABB haben dieses Jahr Drive. Von nicht geraumer Zeit noch als «24-Franken-Aktie» verschrien, geht es 2023 um 24 Prozent aufwärts. Seit der derzeitige CEO Björn Rosengren im März 2020 das Amt übernommen hat, beträgt die Kursrendite 75 Prozent. Dabei sind die Ausschüttungen nicht mit eingerechnet - die Dividendenrendite beim Hersteller von Industrierobotern, Ladestationen für E-Autos, Motoren oder Automationslösungen für Fabriken aller Art her, inklusive derer digitaler Vernetzung liegt derzeit bei 2,4 Prozent.

Wann geht Erfolgsgarant Rosengren?

Die Experten von Bernstein spekulieren derweil wegen den ihrer Meinung nach eher zurückhaltenden Formulierungen der neuen Ziele über einen möglichen Wechsel an der Spitze des Unternehmens. Angesichts fehlender Details zu den Plänen vermuten sie einen «Hauch von Abgesang», was den 64-jährigen Rosengren angeht. Die neuen Ziele könnten ihm eine Plattform bieten, um bei Bedarf zurückzutreten, heisst es.  

Unter dem gewieften Kommunikator Rosengren ist der Konzern nach Jahren der Restrukturierung fitter und zielgerichteter geworden. Der Umbau des Unternehmens, für den er geholt worden war, ist aus seiner Sicht abgeschlossen - Fokus auf Elektrifizierung und Automatisierung. Ein Abgang könnte daher für Unsicherheit sorgen, was an der Börse bekanntlich Gift ist und das derzeitige positive Momentum abklemmen könnte. 

«Wir vermuten, dass ABBs CEO Björn Rosengren seine Aufgabe bei ABB noch nicht ganz erfüllt sieht und noch weitere Ziele erreichen möchte. Dennoch wären wir überrascht, wenn ABB eine Nachfolgelösung für die CEO-Position nicht bereits vorbereiten würde», argumentiert Laux von der ZKB.

ABB bei der Eigenkapitalrentabilität ambitionierter

Eine Personalrochade am Horizont in Kombination mit einer sich selbst auferlegten hohen Messlatte, so etwa lässt sich die Situation bei ABB umschreiben. Insgesamt soll mit den neuen Zielen ein Umsatzplus von jährlich zwischen 6 und 9 Prozent erreicht werden. Bisher strebte ABB ein jährliches Umsatzwachstum von 4 bis 7 Prozent inklusive Akquisitionen an. Der von Bloomberg zusammengetragene Analysten-Konsensus geht dieses Jahr von 8,9 Prozent und im nächsten Jahr von 2,5 Prozent Wachstum aus - eine Lücke, die laut Vontobel-Analyst Mark Diethelm Konsensus-Anpassungen nach oben offenlässt.

Es erstaunt daher nicht, dass Konzernchef Rosengren betonte, dass sich mittlerweile 70 Prozent der insgesamt rund 20 Divisionen von ABB im Wachstumsmodus befinden. Nur laut Konsensus 2024 nicht mehr. Und auch die operative Gewinnmarge dürfte nächstes Jahr zwar über den angepeilten 16 Prozent zu liegen kommen, aber im Wachstum stagnieren. In dieses pessimistischere Bild passt auch, dass ABB im dritten Quartal 2023 den Umsatz zwar kräftig gesteigert hat, aber beim Auftragseingang machte sich die schwieriger werdende konjunkturelle Lage aber bemerkbar. 

Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) liegt bei 19, dasjenige für 2024 bei 21. Mit Blick auf die Zukunft werden die Konkurrenten Siemens (15), Legrand (19), Emerson Electric (17) und Rockwell Automation (21) gleich oder günstiger bewertet. Schneider Electric (23) und Eaton (25) hingegen sind teurer. Und fast geht auch vergessen, dass sich der französische Konkurrent Schneider Electric Anfang November ein mittelfristiges organisches Umsatzwachstum von 7 bis 10 Prozent zum Ziel gesetzt hat. Auch Siemens erwartet für 2024 eine organische Zunahme von 4 bis 8 Prozent. Für Diethelm ist aber ABB bei der Eigenkapitalrentabilität besser und ambitionierter.

Stehen grössere Käufe an? 

Und auch die Frage ist berechtigt, wie viel Zukünftiges im Preis schon abgebildet ist. Aus der Sicht von ZKB-Analyst Laux ist der Erfolg der mehrjährigen Transformation von ABB, die 2023 erstarkte Ertragskraft sowie die erhöhte Resilienz im Kurs weitgehend diskontiert. «Wenn es ABB jedoch gelingt, die neu bekanntgegebenen Finanzziele in der oberen Hälfte bezüglich der Gewinnmarge zu erreichen, dann gibt es weiteres Neubewertungspotential.» Weiteres Upside für den Aktienkurs könnte aus beschleunigtem Umsatzwachstum sowie wertschaffenden Akquisitionen resultieren.

Enttäuschend sei indes, dass beim anorganischen Wachstum weiterhin nur 1-2 Prozent an zusätzlichem Umsatz durch Zukäufe angepeilt würden, heisst es am Markt. Grössere Käufe seien für das Wachstum realistisch, lässt am Investorentag Rosengren verlauten, überwogen hat in der Vergangenheit im Zuge der Reorganisation Verkäufe: Das Hochspannungsgeschäft hat der Konzern 2021 ganz verkauft. Der Bereich E-Mobility wurde ausgegliedert. ABB behält daran zwar die Mehrheit, aber der Börsengang ist seit über einem Jahr wegen der gedrückten Marktstimmung nur aufgeschoben. Stattdessen wurden Anteile direkt bei Grossinvestoren platziert.

ABB hat unter Rosengren wohl ein weitgehend vollständiges, gut aufgestelltes Portfolio erreicht. «Zur weiteren Optimierung sind risikoarme Arrondierungsakquisitionen sicherlich sinnvoll, vor allem wenn sie neue Technologie einbringen, die Marktposition in einem bestimmten Segment optimieren oder die regionale Aufstellung spürbar verbessern», so Laux. Sollten sich für die Divisionen von ABB attraktive Zukaufmöglichkeiten ergeben, wird der Konzern das Tempo sicherlich erhöhen.

Chancen überwiegen dank «neuer Wachstumsära»

Dass die angestrebten Ziele zu konservativ sind, kann mit den Megatrends Elektrifizierung und Personalmangel argumentiert werden. Bei Vontobel ist dann auch von einer «konservativen» Rentabilitätsspanne «am unteren Ende» der Erwartungen die Rede. Dies erlaube es indes, die Prognosen zu übertreffen und zu erhöhen. Insgesamt signalisieren die neuen Ziele, dass ABB in eine «neue, profitable und margenstarke Wachstumsära eintritt», so das Verdikt von Vontobel-Analyst Diethelm. Die gesunde Bilanz - Fremdkapitalquote von 22 Prozent - ermögliche jetzt Käufe bei tieferen Bewertungen, um das Wachstum zu beschleunigen.

Mit der Fokussierung auf die Energiewende schafft es ABB, sich zum Teil dem Konjunkturzyklus zu entziehen. Aber nicht ganz: Im Geschäftsfeld Robotik bestehen Gegenwinde aus China, dem weltweit wichtigsten Markt. Dort sind die Aufträge für Industrieroboter eingebrochen. Die Risiken eines Investments in ABB liegen daher weiterhin in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der Geopolitik. Diese Problematik sollte man laut Diethelm aber nicht überbewerten, liegt der Backlog auch in der Robotik-Sparte bei knapp 9 Monaten.

Die Chancen liegen darin, dass sich die wirtschaftlichen Unsicherheiten auflösen und mit einer Rückkehr der Zuversicht auch die Nachfrage wieder anspringt. «Durch die stark verbesserte Resilienz erscheint ABB für die Risiken gut gerüstet. Mit der fokussierten Ausrichtung auf Elektrifizierung und Automation sowie der erstarkten Profitabilität ist ABB gut positioniert, um an einem Aufwärtstrend an der Börse gebührend teilzuhaben», gibt sich auch Bernd Laux von der ZKB optimistisch.

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