Für Jenny Bai sah die berufliche Zukunft lange gut aus. Die junge Frau gehört zu den zehn besten Informatikstudentinnen chinesischer Universitäten. Ein in Peking ansässiges Internetunternehmen wählte sie nach vier Runden anstrengender Vorstellungsgespräche für eine Stelle aus. Dann kam im Mai die traurige Nachricht: Wegen der Corona-Lockdowns und der allgemein schwierigen Wirtschaftslage zog die Firma ihr Jobangebot zurück.

Jenny Bai ist nicht die einzige Studentin, die vor einer ungewissen Zukunft steht. Die Rekordzahl von 10,8 Millionen Hochschulabsolventen - das entspricht etwa der Einwohnerzahl Portugals - strömt in diesem Sommer auf den chinesischen Arbeitsmarkt. Ausgerechnet jetzt, wo die Lage in China schlecht ist wie lange nicht. Die Arbeitslosenquote für Jugendliche liegt auf dem Rekordwert von 18,4 Prozent und ist damit mehr als dreimal so hoch ist wie der Gesamtschnitt. Kein Wunder also, dass Jenny Bai sagt: "Ich mache mir Sorgen".

Die harte Null-Covid-Politik der Regierung bremst die nach den USA zweitgrösste Volkswirtschaft aus. Dazu kommen der schon länger währende Abschwung am Immobilienmarkt, geopolitische Sorgen wie der russische Krieg gegen die Ukraine und die strengere Regulierung in Bereichen wie Technologie und Bildung.

Die Schwierigkeit, einen Arbeitsplatz zu finden, steht im Widerspruch zu dem, was gebildete junge Menschen erwartet haben. Für Chinas Kommunistische Partei ist das ebenfalls unangenehm - vor allem in einem Jahr, in dem Präsident Xi Jinping sich eine dritte Amtszeit sichern will. "Der Gesellschaftsvertrag zwischen Regierung und Volk lautete: Du hältst dich aus der Politik heraus und wir garantieren dir, dass es dir jedes Jahr besser geht", sagt Michael Pettis, Professor für Finanzen an der Universität Peking. "Die Sorge ist also: Wenn diese Garantie nicht mehr gilt, dann muss sich etwas ändern."

Ministerpräsident Li Keqiang hat die Stabilisierung des Arbeitsmarktes für Hochschulabsolventen deshalb zur obersten Priorität erklärt. Unternehmen, die Praktikumsplätze an sie vergeben, erhalten Subventionen - zusätzlich zu anderen Vergünstigungen. Einige Regionalregierungen bieten Absolventen, die ihr eigenes Unternehmen gründen wollen, billige Kredite an.

«Ein Tiefpunkt»

Rockee Zhang vom Personalvermittler Randstad sagt, dass der chinesische Markt für Einstiegsjobs sogar noch schlechter sei als während der globalen Finanzkrise 2008/09. Die Zahl der neuen Arbeitsplätze dürfte demnach im Vergleich zum vorigen Jahr um 20 bis 30 Prozent einbrechen. "Dieses Jahr ist ein Tiefpunkt. Das habe ich noch nie erlebt", sagt Zhang, der seit zwei Jahrzehnten als Personalvermittler tätig ist. Nach Angaben von Zhilian Zhaopin, einem anderen Personalvermittler, sind die erwarteten Gehälter ebenfalls gesunken - und zwar um 6,2 Prozent.

Der Technologiesektor ist ein wichtiger Arbeitgeber für viele Hochschulabsolventen. Aber in diesem Jahr baut selbst diese Boombranche ihre Belegschaft ab, sagen Experten. Der Grund: Das harte Durchgreifen der Regulierungsbehörden, denen die wachsende Macht der Internetkonzerne ein Dorn im Auge ist. So galt ein neunmonatiger Lizenzstopp für Online-Glücksspiele, während dieser Zeit gaben 14'000 Unternehmen der Branche auf. Auch im privaten Bildungswesen - einem weiteren Sektor, der von den Behörden unter die Lupe genommen wurde - trennten sich Tausende Firmen von ihren Mitarbeitern. Allein Branchenprimus New Oriental hat 60'000 Entlassungen angekündigt.

Auch viele chinesische Tech-Giganten wie Tencent und Alibaba griffen zu einem massiven Stellenabbau. Insgesamt sind in diesem Jahr bereits Zehntausende von Arbeitsplätzen in der Branche weggefallen, sagen fünf Insider der Nachrichtenagentur Reuters. Laut einem im April veröffentlichten Bericht der in Shanghai ansässigen Beratungsgruppe NormStar variiert der Stellenabbau zwischen den etwa zehn grössten Technologieunternehmen. Er soll aber im Schnitt bei etwa zehn Prozent liegen.

Neueinstellungen erfolgen nur langsam. Ein Personalleiter von Tencent sagte, man wolle "ein paar Dutzend" neue Absolventen einstellen, verglichen mit etwa 200 im Jahr zuvor. "Internetfirmen haben tonnenweise Stellen gestrichen", bestätigt Julia Zhu vom Personalvermittler Robert Walters. "Wenn sie die finanziellen Mittel haben, um Leute einzustellen, entscheiden sie sich jetzt eher für erfahrenere Kandidaten als für frische Absolventen."

Dabei wird es in China von den Arbeitgebern in der Regel nicht gern gesehen, wenn junge Leute nach dem Abschluss des Studiums für einige Zeit arbeitslos sind. Um lange Lücken in ihren Lebensläufen zu vermeiden, bewerben sich daher nach offiziellen Angaben Rekordzahlen von Studenten um ein Aufbaustudium.

(Reuters)