cash.ch: Die Berichtssaison in der Schweiz nimmt Fahrt auf. In welche Richtung werden die Resultate in den kommenden Wochen gehen? 

Marc Hänni: In sehr unterschiedliche Richtungen wohl. Es fällt im Moment bereits nicht leicht, jeweils am Morgen vorauszusagen, wie die Aktienkurse auf Unternehmenszahlen reagieren werden. Richemont beispielsweise wies vor eineinhalb Wochen keine besonders guten Zahlen zum Weihnachtsgeschäft aus, doch der Markt reagierte wegen der positiven Kommentare zur Wirtschaftsöffnung in China mit Käufen. Bei Swatch war es genauso. Die Kursreaktionen insgesamt werden wohl weder auf der positiven noch auf der negativen Seite schwächer. Für Stock Picker ist dies aber gut. Die Fundamentalanalyse kommt jetzt wieder mehr zum Tragen als in den vergangenen zwölf Monaten. 2022 war viel mehr makroökonomisch und geopolitisch getrieben.

Die Märkte schauen natürlich jetzt lieber nach vorne als zurück. Was erwarten Sie bei den Ausblicken der Unternehmen? 

Wir spüren, dass die Visibilität immer noch sehr gering ist. Wir erwarten innerhalb der Sektoren unterschiedliche Entwicklungen. Es kommt stark auf das Exposure, die geographischen Ausrichtungen und die Endmärkte an. Die Lieferengpässe haben sich zurückgebildet - nichtsdestotrotz werden der Industriebereich, der Maschinenbau und Autozulieferer vage Aussagen für das erste Halbjahr vornehmen. Wir erwarten daher ein anspruchsvolles Marktumfeld auch jetzt während der Berichtssaison. 

Hat der Markt denn überhaupt eine klare Vorstellung, an was er sich orientieren soll? 

Ich glaube schon. Bis vergangenen November waren die Gewinnerwartungen verglichen mit den Aktienkursen zu hoch. Gegen Ende Jahr wurden dann die Gewinnerwartungen nach unten korrigiert, so dass wir jetzt bei gewissen Titeln, vor allem Qualitätsaktien, eine realistische Erwartungshaltung sehen. Bei China-orientierten Aktien glauben wir, dass sie jetzt wirklich rasch von einer Erholung des Konsums profitieren werden. Insofern erachten wir die Prognosen der Managements beispielsweise von Richemont und Swatch als realistisch.

Spricht dies bei diesen beiden eher zyklischen und konjuntursensitiven Titeln für eine Übergewichtung? 

Wir sind im Luxusgütersegment bei Richemont wie auch bei Swatch übergewichtet. 

Wo sind Sie - in dieser nicht gerade einfachen Lage - im Moment sonst übergewichtet? 

Mit einem Anlagehorizont von über sechs Monaten wird ein Engagement in Mid and Small Caps wieder attraktiv. Mid- und Small Caps geben wir jetzt wieder mehr Vorzug. Voriges Jahr waren wir stärker bei SMI-Titeln übergewichtet.

Was spricht für Mid und Small Caps?

Über die vergangenen 20 oder 25 Jahre haben mittelgross und klein kapitalisierte Aktien outperformt. Als Marktsegment sind Mid und Small Caps besser diversifiziert als Large Caps, aber auch zyklischer ausgerichtet. Auf Rezessionen, aber auch globale Erholungen beim Wirtschaftswachstum reagieren sie schnell. In den vergangenen dreieinhalb Jahren haben wir aber eine massive Underperformance von Mid and Small Caps gesehen. Schon Ende 2018, wegen Befürchtungen um den Handelskrieg USA gegen China, stellte sich schon eine Underperformance ein. Ebenso drückte der Beginn der Pandemie vor drei Jahren die Kurse, genauso wie das vergangene Jahr. Doch die Belastungen haben zuletzt abgenommen.

Was bedeutet Ihre wieder stärkere Gewichtung von zyklischen Aktien auf Titelebene? 

Bei einem Qualitätstitel wie VAT haben wir wieder Exposure ausgebaut. Auch das Engagement bei StraumannBelimoInterroll haben wir verstärkt. Wir haben Stadler Rail im zweiten Halbjahr 2022 wieder stärker gewichtet und Swissquote zurück ins Portfolio genommen. Bei Burckhardt Compression sehen wir strukturelle Vorteile dank den Endmärkten bei Öl und Gas. Momentan haben wir konzentrierte, aber weitgehend ausbalancierte Portfolios aus Vertretern des zyklischen und des defensiven Teil des Marktes.

Welche defensiven Werte bevorzugen Sie?

Wir haben starke Übergewichte bei Lindt & Sprüngli, aber auch, mit etwas reduzierter Übergewichtung zwar, bei Galenica. Die defensive Komponente spielt hier bei einem Unternehmen, das ausschliesslich in der Schweiz tätig ist. 

Haben sie in letzter Zeit auch Sektoren oder Titel in Richtung Untergewichtung verschoben? 

Bei den Large Caps sind wir bei Givaudan untergewichtet. Mittel- und langfristig glauben wir voll an das Unternehmen, aber fundamental sehen wir derzeit noch Schwierigkeiten. Bei Lonza sind wir ebenfalls auf der vorsichtigen Seite und untergewichtet. Auch beim Exposure im Bausektor und insbesondere in diesem Sektor bei Deutschland sind wir im Moment vorsichtig, deshalb eine Untergewichtung bei Geberit. Untergewichtet sind wir auch bei Immobilienwerten. Wegen der Zinssituation ist es für den Ausbau des Engagements noch zu früh. Wenn, dann dürfte der Immobiliensektor im zweiten Halbjahr interessant werden

Wie stehen Sie zu den defensiven Blue Chips sowie zu den gross kapitalisierten Bankaktien? 

Aus Risikoüberlegungen haben wir die Gewichte bei defensiven Titeln wie Novartis und Nestlé reduziert, um das Engagement bei Mid und Small Caps wieder auszubauen. Von einer Credit Suisse lassen wir nach wie vor die Finger. Für ein Engagement bei der Grossbank ist es noch zu früh. Wir setzen stattdessen auf die UBS sowie Julius Bär. Auch das Exposure bei Partners Group haben wir erhöht. Für diesen Titel, der 2022 stark gelitten hat, ist es möglicherweise recht früh. Aber wie sie an unserer Gewichtung sehen, sind wieder wieder viel stärker "risk on" als im vergangenen Jahr. 

Sie erwähnten die China-Öffnung als positiven Treiber. Auch positiv für den Aktienmarkt ist das Ausbleiben einer Energiekrise in Europa. Negativ zeigen sich Indikatoren, die auf eine Rezession hindeuten. Unsicherheiten gibt es bei der Inflation, den Zinsen und geopolitisch. Wie berücksichtigen Sie diese Faktoren? 

Schlussendlich fällen wir unsere Anlageentscheide fundamental. Von der Öffnung Chinas und dem milden Winter könnte die europäische Wirtschaft stärker profitieren als die Wirtschaft der USA. In Europa dürfte die Inflation zwar noch länger höher bleiben als in den USA, aber man sollte den europäischen Markt auch nicht unterschätzen. Aber für den Bau in Deutschland - für viele Schweizer Unternehmen sehr wichtig - sind wir weniger zuversichtlich als für andere Teile Europas. Ich glaube, dass der Markt in den nächsten Monaten weniger auf Inflationsbefürchtungen oder Zinsen reagieren wird als vergangenes Jahr. Viel von der negativen Erfahrung 2022 ist eingepreist.

Ordnen Sie unter dieser Einschätzung auch das Thema Rezession ein?

Ich habe folgende Erfahrung gemacht: Wenn die Rezession bevorsteht, ist dies für den Markt das grössere Thema, als wenn wir mittendrin in einer Rezession stecken. Unsere Positionierung war vor einem Jahr oder vor sechs Monaten deutlich defensiver ausgerichtet als jetzt. Dies sowohl bei der Sektor-Gewichtung als auch bei Einzeltiteln. Das Portfolio ist immer noch etwas stärker defensiv oder auf Unternehmen mit Fokus auf den Schweizer Markt ausgerichtet, aber viel ausbalancierter als 2021 oder Anfang 2022. Dies reflektiert aber auch den Fokus des Marktes. Dass sich eine Rezession nicht über viele Quartale, sondern eher zwei oder drei Quartale erstrecken wird, ist in den Kursen enthalten. So herrscht auch wieder mehr Zuversicht.

Legen Sie Ihren Analysen einen möglichen Zins-Peak in den USA, der Eurozone oder der Schweiz zugrunde? 

Der 'Zins-Peak' in den USA dürfte im ersten Halbjahr erreicht sein. Der Saron in der Schweiz dürfte auf 1,5 Prozent erhöht werden, um die Inflation zu bekämpfen und den Immobilienmarkt zu beruhigen. Von den Zins- und Inflation-Erwartungen her dürfte der Peak global gesehen erreicht sein, und dies stimmt uns zuversichtlich. Der Markt dürfte dieses Jahr weniger stark auf Zinserhöhungen reagieren als im vergangenen Jahr, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. 

2022 hat auch grosse Bewegungen an den Devisenmärkten mit sich gebracht. Jetzt wendet sich das Blatt scheinbar: Zum einen schwächt sich der Dollar ab, dafür steigt der Euro-Kurs, auch zum Franken. Wie spielt dies in Ihre Aktienprognose hinein? 

Wir betrachten natürlich das Exposure von Unternehmen bezüglich Kostenbasis oder Umsatzbasis nach Ländern und schauen, ob es natürliche Hedges gegen Währungsschwankungen gibt. Die Währungsschwankungen treten aber hinter der Bedeutung von Zins- und Inflationsbewegungen zurück. Wir konzentrieren uns in der momentanen Phase der Unsicherheit vor allem auf die Trends in Lokalwährungen, um ein besseres Bild über das zukünftige Wachstum zu erhalten. In der Titelauswahl spielen kurzfristige Währungsschwankungen  für uns eine untergeordnete Rolle. 

Wenn wir über die Berichtssaison und das Halbjahr hinausblicken: Wie schätzen Sie die Entwicklung in den nächsten zwölf oder 18 Monaten ein? Was erwarten Sie bezüglich Gewinnsituation und Bewertungen? 

Bei den Gewinnerwartungen fand vergangenes Jahr eine extreme Kontraktion statt. Ende 2021 ging der Markt davon aus, dass die Gewinne 2022 für Large Caps um 26 und bei Mid und Small Caps um 60 Prozent steigen würden. Das waren die Schätzungen der Sell Side. Das war viel zu hoch und korrigierte massiv. Vor einem Monat sprachen die Schätzungen für die Resultate 2022 bei Large Caps von einem Gewinnrückgang von 9 Prozent und bei Mid und Small Caps von einem Rückgang um 3 Prozent aus. Unserer Meinung nach stimmt das für die aktuelle Basis zuversichtlich, denn die negativen Gewinnschätzungen dürften eingepreist sein. 

Also spricht auch mittelfristig vieles für die kleineren Unternehmen an der Schweizer Börse?

Bezüglich aktueller Bewertung sahen wir Anfang dieses Jahres ein Kurs-Gewinn-Verhältnis für die nächsten 12 Monate von 15,5 bei den Large Caps und von 19 bei den Mid und Small Caps. Auf dieser Basis sprechen wir von einem Discount zum langjährigen Durchschnitt. Dies lässt den Markt aktuell eher wieder günstig aussehen. Sollten die Gewinnschätzungen nochmals zurückgehen, lässt dies die Bewertungen wieder steigen und den Markt vermeintlich teurer werden. Zum jetzigen Zeitpunkt - und wir gehen davon aus, dass die Gewinnannahmen eben realistisch sind - sind wir bei den Bewertungen auf einem attraktiven Niveau, am meisten bei den mittelgrossen und kleinen Titeln. Deswegen sollten wir in den nächsten zwölf bis 18 Monaten eine positive Performance in diesem Marktsegment sehen.  

Marc Hänni ist Portfoliomanager und seit 2011 Leiter Schweizer Aktien bei Vontobel Asset Management.