cash.ch: Frau Dehn, der Zollstreit, Zinssenkungen, ein schwacher Dollar und Rekordstände der Aktienmärkte - was war für Sie im bisherigen Börsenjahr am prägendsten?

Ariane Dehn: Die Globalisierung ist ziemlich durchgeschüttelt worden. Aber auch hier muss man das Rauschen von den relevanten Signalen unterscheiden. Ja, die Preise für Güter, die nach Amerika verschifft werden, steigen. Hintergrund ist aber, dass US-Präsident Donald Trump eine Produktionsverlagerung in die USA herbeiführen will.

Ein Bruch des Globalisierungstrends?

In den 80er-Jahren war «Just-in-time» auch so ein Trend - kurze Lieferzeiten, wenig Lager, alles ganz effizient. Lieferketten wurden kleinteiliger, in der Autoindustrie entstanden Spezialisten für Lenker, Antriebe, Bremsen, Ölwannen und so weiter. Einen solchen Grad an Arbeitsteilung wird man nicht mit einem Wisch vernichten. Dennoch hat Trump mit seinen Zöllen Europa wachgerüttelt. Nehmen Sie Energieversorgung und Verteidigung. Unser Kontinent ist hier im Hintertreffen. Das ist auch ein Problem für das Wachstum. Mario Draghi, einst Chef der Europäischen Zentralbank, hat dazu ein interessantes Papier geliefert.

Stimmen Sie ihm zu?

Technologie, Infrastruktur, Zahlungssysteme, Verteidigung - da dürfen wir uns nicht auf die Vereinigten Staaten verlassen, sondern müssen selbst investieren. Das gibt Impulse und eröffnet Investitionschancen.

Zum Technologiesektor geht die Spekulation um, es habe sich eine Blase gebildet. Wie sehen Sie das?

Solche Vermutungen sind immer etwas spekulativ. So genau weiss es letztlich niemand. Klar ist, dass die Ausrüster auf jeden Fall Geld verdienen werden, also die Chiphersteller wie Nvidia. Das war schon beim Goldrausch so. Die Schaufelverkäufer haben immer Geld gemacht, egal, ob der Käufer am Ende Gold gefunden hat oder nicht.

Was sagt uns das übertragen auf den Technologiesektor im Jahr 2025?

Als Investor muss man die Geschäftsmodelle der Tech-Grössen verstehen. Wie innovativ sind sie? Generieren sie aus eigener Kraft cash oder brauchen sie Fremdfinanzierung? Nvidia - die brauchen keine Fremdfinanzierung, die haben haufenweise cash.

Wir steuern auf das Jahresende hin. Wohin geht die Reise der Aktienmärkte?

Ich bin wegen der Gemengelage vorsichtig. Im Moment blendet der Markt die politisch angespannte Lage weitgehend aus. Das kann rasch kippen.

Sie sprechen den Nahen Osten und die Ukraine an?

Nicht nur - in Frankreich reiht sich Regierungskrise an Regierungskrise, das ist nur ein Beispiel. Und der Nahe Osten ist wirtschaftlich und für die Aktienmärkte nicht wirklich relevant.

Sie spielen die Rolle des Nahen Ostens herunter? In der Vergangenheit lösten Krisen in der Region Rücksetzer an den Märkten aus.

Stimmt - aber diese Rücksetzer waren vom Öl getrieben. Natürlich lassen höhere Energiekosten die Margen schmelzen. Das kann keinen Investor freuen. In diesem Punkt ist der Nahe Osten aber unbedeutend.

Wo sehen Sie momentan Chancen?

Das europäische Small-cap-Segment hat Potenzial, und zwar nicht nur weil wieder Kapital aus den US-Märkten nach Europa fliesst.

Sondern?

Es gibt hier hoch innovative und wachstumsstarke Unternehmen im Technologiesektor, in der Energieversorgung, der Energiespeicherung, in der Biopharma oder im Medtech- und Gesundheitsbereich. Der Bedarf an individueller Behandlung steigt enorm - und wird weiter steigen, weil der Trend zu Langlebigkeit weitergeht. Nach dem Motto: Mit 70 braucht es eine neue Hüfte, mit 80 ein neues Knie, mit 90 ein neues Herz. Das Ganze soll minimalinvasiv sein, und der Patient soll möglichst am Tag nach der Operation das Spital verlassen. Ich übertreibe jetzt, aber Sie sehen, wohin die Reise geht.

Der Swiss Performance Index hat im Oktober wieder ein Allzeithoch erreicht. Wie lautet Ihre Einschätzung zum Schweizer Aktienmarkt?

Ganz wichtig ist, dass die Schweiz eine fantastische Infrastruktur hat, weltweit Nummer zwei in der Digitalisierung und Nummer eins in der Innovation ist. Die Verzahnung von Spitzenforschung an den Universitäten und den Unternehmen ist eng. Das sind Zutaten, die den Erfolg des Aktienmarkt auf Dauer bestimmen. Denn nur Unternehmen, die überlegene Produkte hervorbringen, können sich auf dem Weltmarkt behaupten. Für den Schweizer Aktienmarkt, der mit Novartis und Roche stark von Pharmawerten geprägt ist, ist das entscheidend.

Gegenwärtig laufen mehrere Trends miteinander einher: Künstliche Intelligenz (KI), Energiewende, Longevity, also Langlebigkeit. Schillern sie nur oder haben Sie echt Potenzial?

Man muss die richtige Perspektive einnehmen. KI ist ein Werkzeug - so, wie das Internet seit drei Jahrzehnten ein Werkzeug ist. Es verdient kein Geld. Geld verdient, wer es geschickt nutzt. Also muss man nach Firmen Ausschau halten, die Künstliche Intelligenz in ihr Geschäftsmodell einbauen und deshalb am Ende bessere Produkte am Markt haben. Das können Pharma-, Medtech-, Energieversorgungs-, Dienstleistungsunternehmen oder dann eben Ausrüster sein.

Was bedeutet das zum Beispiel für den Langlebigkeitstrend - um im Bild zu bleiben: Wer sind hierbei die Schaufelverkäufer, die vom Goldrausch profitieren?

Medtech-Unternehmen - zum Beispiel die Hersteller von Hörgeräten, die Augenheilspezialisten. Oder nehmen Sie den ganzen Nahrungsergänzungsbereich, Kosmetikunternehmen wie Galderma und alles, was mit Freizeit zu tun hat. Ältere Leute haben Geld, sie wollen und können reisen.

Was könnte die Finanzmärkte in den nächsten Monaten zurückwerfen?

Anleger sollten die Staatsverschuldung genau beobachten, vor allem in den USA. Die Schulden verleiten leicht zu Steuererhöhungen, welche die Konsumenten, den Konsum und letztlich die Konjunktur belasten. Solche Momente sind für Anleger schmerzhaft, bieten aber auch Chancen für einen Wiedereinstieg.

Für Unsicherheit sorgte auch immer wieder US-Präsident Donald Trump. Was raten Sie Anlegerinnen und Anlegern?

Geduld! Was immer passiert, die Erfahrung zeigt, dass die Aktienmärkte langfristig steigen. Zudem sollte man sein Investment verteilen. Dann ist man so sicher, wie man eben sein kann.

Ariane Dehn ist Schweiz-Chef des Vermögensverwalters BNP Paribas. Zuvor durchlief sie mehrere Stationen bei Janus Henderson. Insgesamt ist sie seit drei Jahrzehnten in der Finanzbranche aktiv, wobei sie in unterschiedlichen europäischen Ländern gearbeitet hat. Dehn hat einen Abschluss als Versicherungsspezialistin und Hedgefonds-Beraterin.

Reto Zanettin
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