cash.ch: Frau Hockenjos-Erni, Der Konflikt im Nahen Osten dominiert derzeit die Berichterstattung. Was sind die Implikationen für den Aktienmarkt?

Fabienne Hockenjos-Erni: Die erschütternden Bilder aus dem Nahen Osten machen mich betroffen und traurig. Die Finanzmärkte hingegen abstrahieren bisher noch stark und haben auf den Angriff der Hamas und die Reaktion Israels nur wenig reagiert. Dies könnte sich bei einer weiteren Eskalation ändern, allen voran wenn es zu einem Flächenbrand im Nahen Osten kommt und der Konflikt weitere Länder erfasst. Dieses Szenario würde unter anderem einen Anstieg der Öl- und Gaspreise nach sich ziehen. Erneut steigende Energiekosten wären für Konsumentinnen und Konsumenten, die Wirtschaftsaussichten sowie auch für die Strategie der Notenbanken, die mit ihrer restriktiven Geldpolitik versuchen der Inflation Herr zu werden, ein schlechtes Omen und könnten zu einer Marktkorrektur führen. 

Nichtsdestotrotz ist die geldpolitische Trendwende absehbar und gleichzeitig trübt sich die Konjunkturlage weiter ein. Was ist an den Börsen bereits eingepreist?

Der Markt preist unseres Erachtens ein relativ positives Szenario ein. Auf der Konjunkturseite rechnen die Märkte in den USA mit einem ‹Soft Landing›. Die bisherigen Konjunkturdaten, wie auch in dieser Woche durch stärker als erwartete Produktionsdaten und guten Einzelhandelsumsätzen bestätigt, haben positiv überrascht und bekräftigen dieses Szenario. Würde sich im Verlauf der nächsten Monate eine harte Landung – ausgelöst zum Beispiel durch hohe Finanzierungskosten oder anhaltend hohe Inflationszahlen – abzeichnen, dürften die Märkte mit negativen Kursreaktionen reagieren. Auf der Zinsseite gehen die Finanzmärkte mittlerweile davon aus, dass die Fed erst ab Mitte 2024 die Zinsen senken wird, dann aber innert Kürze um rund 100 Basispunkte. Dies ist deutlich aggressiver, als dies die Notenbanker gemäss dem letzten Dot Plot avisieren. Entsprechend besteht unseres Erachtens hier Enttäuschungspotenzial, falls sich das 'higher for longer'-Szenario in den USA materialisiert. 

Was sind die grössten Markt-Gefahren, die Ihrer Meinung nach derzeit niemand auf dem Radar hat?

Auf dem Radar sind mittlerweile diverse Risikofaktoren, aber diese haben sich bisher noch nicht materialisiert. Die geopolitischen Krisenherde wie die Ukraine, Taiwan oder neu der Nahe Osten könnten den Markt dennoch auf dem falschen Fuss erwischen. Zusätzlich zu Zins- und Inflationssorgen könnten auf der Credit-Seite negative Überraschungen lauern. Die Refinanzierungskosten der Unternehmen und Staaten sind durch den Zinsanstieg deutlich gestiegen, die Kreditaufschläge haben bisher aber erst wenig reagiert. Die steigenden Credit Spreads von italienischen Staatsanleihen oder der Ausfall von Zahlungen chinesischer Immobilienkolosse könnten erste Vorboten für einen schwelenden Gefahrenherd darstellen.

Was dürfen Anlegerinnen und Anleger als Konsequenz vom restlichen Börsenjahr erwarten?

Wir schliessen kurzfristig einen Marktrücksetzer nicht aus, würden eine Korrektur jedoch tendenziell eher als Einstiegsopportunität sehen – natürlich immer in Abhängigkeit vom auslösenden Faktor. Auf die nächsten drei bis sechs Monate rechnen wir mit einem volatilen Seitwärtstrend, bevor die Börsen dann ihren langfristigen Aufwärtstrend wieder aufnehmen dürften.

Welche Erwartungen haben Sie an die anlaufende Berichtssaison? Wo sehen Sie Überraschungen?

Wir gehen davon aus, dass sich mit der laufenden Berichtssaison auch die Volatilität an den Märkten erhöht. Erste Anzeichen dafür werden bereits visibel. So musste beispielsweise Comet am Donnerstag seine Guidance zum Geschäftsjahr 2023 deutlich reduzieren, da die schwache Nachfrage nach Halbleiterausrüstung länger andauert, als bisher erwartet. Hohe Lagerbestände, steigende Kosten - operative, aber auch Refinanzierung - und Währungsgegenwind sind auch andernorts Punkte, die zu schwächeren Ergebnissen führen könnten. 

Auf was sollten Anleger setzen? Substanzaktien (Value), Zykliker oder Wachstumswerte?

Ein gesunder Mix dürfte langfristig wohl die beste Antwort auf diese Frage sein. Kurzfristig spricht unsere eher vorsichtige Haltung gegen ein Übergewicht in sehr zyklischen Sektoren. Im Bereich Wachstum setzen wir als Ergänzung auf Qualität. Eine solide Bilanz, hohe Cashflows und ein guter Leistungsausweis helfen, auch in einem herausfordernden Marktumfeld zu bestehen. Beispiele für diese Kombination stellen unserer Ansicht nach VAT oder Richemont dar. Mit Blick auf das Risiko, dass die Zinsen noch weiter steigen, bieten sich aber auch Aktien aus dem Value-Bereich an. Im Finanzsektor setzen wir weiterhin bevorzugt auf Versicherungen oder alternative Geschäftsmodelle wie jenes von Partners Group. Value-Charakter gepaart mit Qualität bieten Roche und Novartis.

Was sind im Hinblick Ihres Marktausblicks die Schweizer Gewinneraktien für die nächsten Monate?

Ypsomed ist eine Firma, welche in den kommenden Monaten weiterhin überzeugen könnte. Der Aktienkurs hat aufgrund der grossen Verträge im Bereich GLP-1 stark zugelegt und dürfte diese Niveaus halten. Ypsomed ist einer der grossen Profiteure im Bereich, da sie einen Grossteil der benötigten Autoinjektoren respektive Pens herstellen werden. Auch bei Siegfried erwarten wir trotz Herausforderungen im Umfeld weiterhin gutes Business Momentum. 

Wie sieht es bei den Blue Chips aus?

Auch für Nestlé sind wir jüngst positiver geworden. Einerseits ist die Bewertung auf ein Niveau abgesunken, das nun deutlich unter historischen Mittelwerten liegt und andererseits hat das Unternehmen unverändert gute mittelfristige Wachstumsperspektiven dank der Fokussierung auf wachstumsstärkere Bereiche. Dies dürfte in den kommenden Jahren die Gewinne positiv befeuern und damit auch die Dividende, die bereits jetzt attraktiv ist. Der aktuelle Einbruch nach den Neunmonatszahlen bietet unseres Erachtens einen guten Einstiegszeitpunkt. Aufgrund der hohen Exponierung auf Infrastrukturprojekte und einer Erholung im 4. Quartal im hochmargigen US-Dachgeschäft trauen wir auch Holcim eine gute Gewinnentwicklung zum Jahresende hin zu.

Lonza und Roche wurden im Swiss Market Index (SMI) stark abgestraft. Bieten sich hier Chancen?

Lonza hat aufgrund des CEO-Wechsels sowie zwei aufeinanderfolgenden Gewinnwarnungen klar enttäuscht. Die Aktie dürfte vorerst keine positiven Trigger haben. Ein starker CEO würde den Markt erfreuen. Es braucht aber Gewissheit, dass das nach 2024 angestrebte Wachstum erreicht wird und Konkurrenten Wuxi und Samsung im Zaun gehalten werden können. Langfristig bietet die Aktie aber Chancen. 

Und Roche?

Roche hat aufgrund einiger Pipeline-Enttäuschungen sowie dem CEO-Wechsel ebenfalls stark gelitten. Die Aktien sind attraktiv bewertet, es stehen aber noch einige Studien mit erhöhtem Risiko bevor, weshalb kurzfristig die positiven Treiber fehlen. Auf die längere Frist scheint die frühphasige Pipeline aber weiter spannend, der CEO muss die richtigen Hebel in Gang bringen. Roche erzielt weiterhin enorm hohe Cashflows, kann spannende Akquisitionen oder Lizenzdeals tätigen und zahlt eine schöne Dividende aus.

Wie stehen Sie einem Investment in Sandoz gegenüber?

Sandoz als führende Firma im Bereich der Herstellung von Generika sowie Biosimilar wurde günstig an die Börse separiert. In Zeiten von Druck auf die Medikamentenpreise sowie einer Vielzahl von biologischen Medikamenten kurz vor ihrem Patentende erscheint der Investment Case interessant. Sandoz dürfte in den kommenden Jahren von diesen Treibern profitieren. Es ist wichtig, dass Sandoz ihre aktuell sehr tiefe Marge wieder auf die Zielbandbreite bringt, was wir als herausfordernd erachten. Der Biosimilar-Markt ist stark umkämpft, die Konkurrenz nimmt zu, was die Kostenabsorption erschwert. Zudem ist Sandoz noch stark von Novartis abhängig und muss nach Jahren von zu tiefen Investitionen aufholen. 

Bei welchen Titeln sollten sich Anleger mit einer Dividendenstrategie engagieren?

Nestlé bietet aktuell eine Dividendenrendite von rund 3 Prozent, und dies bei inskünftig steigendem Umsatz und einer antizipierten Margenverbesserung. Die Dividende wurde seit 1959 nie gekürzt und in den letzten 28 Jahren ständig erhöht. Im Finanzsektor ist aktuell Vontobel interessant mit einer Dividendenrendite von über 5 Prozent. Von der neuen Führung erwarten wir kurzfristig allerdings keine neuen Impulse. Im Versicherungssektor hat Swiss Re in den vergangenen Jahren die Dividende entweder gehalten oder erhöht und wartet nun mit einer Rendite von über 5 Prozent auf. Eher vorsichtig wären wir bei Adecco, die zwar eine Dividendenrendite von 7 Prozent aufweist, dies jedoch in einem hochzyklischen Geschäftsfeld mit keinem klaren strukturellen Wachstum.

Wo bieten sich am Schweizer Markt Gewinnmitnahmen an?

UBS hatte 2023 einen sehr guten Lauf. Die Übernahme der Credit Suisse erfolgte auf dem Papier zu sehr vorteilhaften Konditionen und das mittelfristige Potenzial wird unserer Ansicht nach zu Recht als beachtlich beurteilt. Wir glauben aber, dass mit den jüngsten Avancen bereits sehr viel Positives vorweggenommen wird. Das Unternehmen steht nun in der Beweispflicht, die ambitionierten Ziele auch erreichen zu können. Darüber hinaus bestehen Unsicherheiten bezüglich Rechtsrisiken.

Welche Schweizer Titel sehen Sie im gegenwärtigen Marktumfeld als grosse Verlierer?

Generell leiden Wachstumsaktien am stärksten von der andauernd hohen Zinslage und werden ohne die vorhandene hohe Qualität verkauft. Lonza zählt im 2023 zu den klaren Verlierern. Makrogetriebene Gründe wie ein schwaches Finanzierungsumfeld bei Biotech-Firmen reduzierten das Wachstum. Generell wird der Markt der Auftragsfertiger - Bachem und Siegfried - sowie der Life Science / Laborfirmen - Tecan - stark abverkauft. Während bei Vertragsherstellern vor allem Themen wie das Finanzierungsumfeld, Pipeline-Anpassungen der Pharmas wegen Preisreformen zu schlechtem Sentiment führen, leidet die Life-Science Industrie von einem lang andauernden Lagerabbau nach den übertriebene Corona-Jahren. Die rückläufige Inflation führt zudem zu einem Verschieben von Bestellungen, was Umsatz und Gewinn gefährdet. Viel Negatives ist bei diesen Aktienwerten aber bereits eingepreist. Ebenfalls stark unter Druck geraten sind die Valoren von AMS-Osram. Das Unternehmen hat jüngst einen Finanzierungsplan über insgesamt 2,25 Milliarden Euro angekündigt, der unter anderem eine Kapitalerhöhung von 800 Millionen Euro umfasst. Wenngleich wir dies für eine gute Entscheidung halten, bleiben vorderhand einige Unsicherheitsfaktoren bestehen, weshalb wir bei den Valoren an der Seitenlinie bleiben.

Was sind die drei wichtigsten Erkenntnisse bei der Anlagestrategie, die Sie für den langfristigen Erfolg an der Börse für unabdingbar halten?

Es bedarf einer guten Strategie, Weitblick und Disziplin. Nährboden des Erfolgs an der Börse ist die Ausgestaltung der Anlagestrategie. Sie muss die eigenen Bedürfnisse abbilden, auf die langfristigen Ziele abgestellt sein und dabei die eigene Risikoaffinität und Risikofähigkeit abbilden. Oft wird die Wichtigkeit des Anlagehorizontes unterschätzt. Auf dieser Grundlage müssen Investitionen getätigt werden, welche mit entsprechendem Weitblick erfolgen. Kurzfristigkeit zahlt sich nur selten aus. Geld sollte in zukunftsfähige Geschäftsmodelle mit nachhaltig hoher Ertragskraft fliessen. 'Last but not least' braucht es Disziplin, was oft schwieriger ist, als es auf den ersten Blick scheint. Hat man eine gute Strategie gilt es dieser konsequent zu folgen. Ein gut aufgestelltes und diversifiziertes Portfolio kann auch über kurzfristige Unsicherheit hinwegsehen, einer erhöhten Volatilität standhalten und langfristig attraktive Opportunitäten nutzen.

Fabienne Hockenjos-Erni ist seit Juni 2020 Anlagechefin bei der Basellandschaftlichen Kantonalbank (BLKB). Davor war sie im Unternehmen unter anderem als Leiterin Investment Research tätig. Zu ihren früheren Stationen zählt die Notenstein La Roche Privatbank sowie der Versicherungskonzern Baloise

Fabienne Hockenjos-Erni beantwortete die Fragen schriftlich.

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