cash.ch: Als am 24. Februar Russland in die Ukraine einmarschierte, schmierte die Börse ab. Seit zwei Wochen sehen wir eine starke Erholung. Die Verluste sind sogar wieder aufgeholt. Ist das gerechtfertigt? 

Caroline Hilb: Es entsprach zumindest unseren Erwartungen. Wir sind nach diesem starken Rückgang investiert geblieben, und haben dies auch unseren Kunden empfohlen. Es ist ein klassisches Muster, dass die Märkte bei geopolitischen Risiken stark nachgeben, sich aber auch wieder schnell erholen. 

Macht es denn Sinn, dass die Börsen heute höher stehen als am 24. Februar? Die Welt ist ja nun doch eine andere. 

Das macht natürlich schon nicht wirklich Sinn. Wir haben mit den hohen Energiepreisen und mit der hohen Inflation Unsicherheitsfaktoren, die zukünftig eine Rolle spielen werden. Mit der starken Gegenbewegung ist in meinen Augen auch wieder etwas Luft draussen. Die Märkte werden daher eher wieder seitwärts tendieren. 

Wie stark beunruhigt Sie die rekordhohe Inflation? Grundsätzlich gelten Sachwerte wie Aktien ja als Inflationsschutz.

Dieser Meinung bin ich nach wie vor. In einem inflationären Umfeld macht es Sinn, in Aktien investiert zu sein. Man muss bei der Selektion einfach sehr strukturiert vorgehen. 

Das heisst?

Man sollte Firmen wählen mit einer guten Marktposition, die ein breites Produktportfolio und eine enge Kundenbindung haben. Daraus ergibt sich eine starke Preissetzungsmacht, was extrem wichtig ist. Zudem hat in einem inflationären Umfeld Gold nach wie vor einen stabilisierenden Charakter. Auch Immobilien bleiben auf lange Sicht weiterhin interessant.  

Die Nummer Eins bleiben aber Aktien? 

Ich finde Aktien schon aufgrund der Liquidität weiterhin am attraktivsten. Hinzu kommt ja noch, dass die starke Inflation nicht allein den hohen Energiepreisen geschuldet ist, sondern auch eine Folge der guten Konjunkturentwicklung ist. Und hier sieht es weiterhin positiv aus. Auch das spricht für Aktien. 

Die «Bullen» am Markt argumentieren derzeit, dass die Unternehmen weiterhin in der Lage sein werden, Gewinnsteigerungen zu erzielen – und so ihre Bewertungen rechtfertigen. Sie würden also zustimmen? 

Bei gewissen Firmen ganz bestimmt. Andere Unternehmen sind natürlich schon extrem hoch bewertet. Absolut mit einem Ja kann ich das also nicht beantworten. Aber bei manchen Firmen wirkt sich die höhere Inflation sicher weniger negativ aus als bei anderen. 

Bei Inflation stellt sich ja immer die Frage, inwiefern die Unternehmen höhere Kosten an die Konsumenten weitergeben können. Erwarten Sie hier böse Überraschungen bei den kommenden Quartalszahlen? 

Die Schere zwischen Firmen, die profitieren und jenen, die höhere Kosten nicht weitergeben können, wird sich ganz bestimmt öffnen. 

Welche Firmen profitieren vom aktuellen Umfeld? 

Ein konkretes Beispiel wäre zum Beispiel die Deutsche Post. Wir haben höhere Frachtkosten, doch viele sind ja genau auf die derzeit knappen Transportfazilitäten angewiesen, um ihre Verträge zu erfüllen. Aber auch Firmen aus dem nicht-zyklischen Konsum können profitieren, wie etwa Orior, der Schweizer Nahrungsmittel-Veredler. Dieses Unternehmen wird einen grossen Teil seiner gestiegenen Inputkosten weitergeben können. 

Wer wird es schwerer haben? 

Gewisse Industriefirmen, werden es sicher schwerer haben, sich in der aktuellen Situation zu behaupten. Zum Beispiel jene, die sehr energieintensiv sind oder auf sehr viele Rohstoffe wie etwa Stahl angewiesen sind. Diese werden es schwer haben, Kosten weiterzugeben. Darunter fallen etwa der Landmaschinenhersteller Bucher oder das Industrieunternehmen Georg Fischer. Und dann gibt es ja noch die sogenannten Wachstums-Titel. 

Wie sind hier die Aussichten?  

Diese Aktien haben im Tiefzinsumfeld stark profitiert. Bei den Tech-Werten ist derzeit eine gewisse Neubewertung im Gange. Dennoch sind Tech-Aktien langfristig ein wichtiger Bestandteil im Portfolio. Viele Technologieunternehmen profitierten von strukturellem Wachstum. Microsoft wird auch in Zukunft hohe Gewinne erzielen. Daher sollte man auch in solchen Titeln investiert bleiben. 

Zuletzt war es so, dass man praktisch nur den breiten Markt kaufen musste, um ordentliche Renditen zu erzielen. Siese Zeiten scheinen nun vorbei zu sein. 

Ich finde, es macht mehr Sinn, gezielt vorzugehen und systematischer in Dividenden-Aktien zu investieren, gerade mit einem höheren Zins. Dividenden helfen, in schwankungsanfälligen Märkten, wie wir sie derzeit erleben, eine gewisse Glättung in die Performance zu bringen. Qualitätstitel helfen da ebenfalls. 

Welche Aktien sich in diesem Umfeld genau lohnen, besprechen wir später noch. Vorher noch das Thema Zinsen. Der Markt scheint die Zinswende der Fed vorerst verdaut zu haben. Kann die Börse in ihrer jetzigen Verfassung also mit steigenden Zinsen umgehen? 

Ich habe keine Angst vor steigenden Zinsen. Der Aktienmarkt war über viele Jahre immer wieder mit steigenden Zinsen konfrontiert. Wir sind uns das einfach nicht mehr so gewohnt. Kurzfristig wird es zu Schwankungen kommen, bis sich die Marktteilnehmer an die höheren Zinsen gewöhnt haben. Aber wir sollten im Augen behalten, dass die Notenbanken das Vertrauen der Finanzmärkte behalten müssen. Sie müssen ihre Glaubwürdigkeit wiederherstellen und zeigen, dass sie bereit sind, mit ihrem Handeln der sehr hohen Inflation Gegensteuer zu geben. 

Gelingt das der Fed? 

Die Einflussnahme der Notenbanken ist etwas eingeschränkt, weil sie natürlich nicht direkt etwas gegen die Energiepreise ausrichten können. Aber wenn sie wie jetzt planbar vorgehen mit stetigen, aber sachten Zinserhöhungen, ist das mittelfristig sogar gut für die Aktienmärkte. Denn es schafft Vertrauen im ganzen System. Die Notenbanken müssen die Feuerwehrübung der ultratiefen Zinsen beenden. Ich finde, die Fed macht das gut, indem sie sachte vorgeht. 

Geht die Fed denn sachte vor? Laut Fed-Plan steht Ende Jahr ein Leitzinsniveau von 1,9 Prozent. Zudem soll im Mai der Abbau der Fed-Bilanz starten, der dem Markt Liquidität entziehen wird. Kommt die Bewährungsprobe nicht erst noch? 

Kurzfristig vielleicht schon. Aber 2013 hatte die Fed ja schon mal den Ankauf von Anleihen beendet. Damals sind die Aktienmärkte nach einer ersten Schrecksekunde ziemlich gelassen damit umgegangen. So einen stetigen Rückbau der Bilanz kann der US-Kapitalmarkt sehr gut verkraften. Ich glaube, die Aktienmärkte werden nach einer ersten Schrecksekunde auch diesmal gut damit umgehen können. 

Aber ging es beim letzten Zinserhöhungszyklus ab 2013 nicht viel langsamer vonstatten? Zuerst kam das Tapering, das heisst Anleihekauf-Stopp, dann 12 Monate später die erste Zinserhöhung, und erst einige Jahre später wurde die Bilanz reduziert. Jetzt werden alle drei Hebel innerhalb eines Jahres in Bewegung gesetzt. 

Es stimmt, das ist natürlich viel komprimierter als in der Vergangenheit. Aber wir sind auch mit einer viel höheren Inflation konfrontiert, und wir hatten zuletzt eine viel bessere Konjunkturentwicklung als damals. Das sind zwei ganz entscheidende Faktoren, bei denen es sich damals gänzlich anders verhielt. Daher muss die Fed viel schneller reagieren. Nur, dass sie das tun wird, war ja absehbar. Ich sag immer, 99 Prozent der Geldpolitik ist Kommunikation. Die Fed hat die Märkte schon sehr lange auf diese restriktivere Geldpolitik vorbereitet. Solange dieser planbare Charakter bleibt, wird der Markt damit gut umgehen können. Was die Börse ja am wenigsten mag, ist Unsicherheit. Diese hat sie in solch einer Konstellation nicht. 

Wie wird sich die Schweizerische Nationalbank (SNB) in diesem Umfeld verhalten, auch im Hinblick auf den starken Franken

Die SNB ist in einer privilegierten Lage. Zwar ist die Inflation auch in der Schweiz ausserhalb des Zielbandes, aber im internationalen Vergleich ist sie immer noch tief. Sie teilte ja bei ihrer letzten geldpolitischen Lagebeurteilung mit, dass sie den Franken im Hinblick auf einen Währungskorb, aber auch im Hinblick auf die Inflation bewertet. 

Das heisst? 

Das bedeutet für mich, dass die SNB eine stetige Aufwertung des Frankens zulassen wird. Damit würde ich jetzt auch als Schweizer Unternehmen rechnen. In der Vergangenheit konnte man sehen, dass die Wirtschaft damit gut umgehen konnte. Die SNB ändert also überhaupt nichts an ihrem Fahrplan. Sie fokussiert sich weiterhin stark auf den Franken und nutzt diesen auch als Inflationsbremse. Zudem wird sie der Europäische Zentralbank (EZB) bei Zinserhöhungen den Vortritt lassen.

Die SNB hat also keinen Handlungsdruck?

Nein. Eine Zinserhöhung wäre eher kontraproduktiv. Wir sehen ja im Ukraine-Krieg, wie der Franken zur Stärke neigt. 

Momentan ist viel von der inversen Zinskurve die Rede. Am Dienstag überstieg erstmals seit 2019 die Rendite zweijähriger Bonds die der zehnjährigen. In der Geschichte folgte – mit einer Ausnahme 2019 – auf eine Inversion stets eine Rezession. 'This time is different' ist derzeit oft zu hören. Diesmal sei es anders, die Notenbankpolitik verzerre die Zinskurve. Sehen Sie das ähnlich? 

Wenn ich die Renditen dreimonatiger und zehnjähriger US-Bonds vergleiche, sehe ich die Inversion der Zinskurve nicht. Die Rendite zweijähriger Bonds reagiert in erster Linie auf Anpassungen der Markterwartungen an die Fed-Geldpolitik. Hier werden bis zu neun Zinserhöhungen in diesem Jahr eingepreist. Dass die "Zweijährigen" vor diesem Hintergrund stark nach oben gehen, überrascht mich darum nicht. 

Ist es also wirklich anders dieses Mal? 

'This time is different' würde ich wahrscheinlich nicht sagen, aber ich denke, es ist besser, sich bei der Beurteilung der Zinskurve auf die Laufzeiten drei Monate und zehn Jahre zu konzentrieren. Da wir hier keine Inversion haben, sehe ich die Zinskurve auch nicht als Rezessionssignal. 

Wie gefährlich könnte der Krieg in der Ukraine noch für die Weltkonjunktur werden? 

Die hohe Inflation mit den hohen Energiepreisen belastet natürlich die Wirtschaft. Transportfirmen spüren es, auch wir als Konsumenten sind von der Inflation betroffen. Dennoch glaube ich nicht, dass diese Situation eine Rezession auslösen wird. Man muss sehen, in den Energiepreisen ist sehr viel Spekulation drin. Dennoch wird das Wachstum negativ beeinträchtigt werden, keine Frage. 

Die Zahlensaison für das erste Quartal steht vor der Tür. Was sind Ihre Erwartungen? 

Viele Unternehmen werden vor allem die Unsicherheiten betonen, die aus der Kriegssituation in der Ukraine erwachsen ist. Man wird darauf hinweisen, dass man die höheren Kosten für Energie, für die Transporte und auch für die Erhöhung der Löhne gespürt habe. Das bedeutet für mich, dass wir einen gewissen Druck auf die Margen sehen werden. Ich bin daher eher vorsichtig eingestellt für die kommende Berichtssaison und halte negative Überraschungen für wahrscheinlicher als positive. Zuletzt haben die Firmen ja immer eher positiv überrascht, hier dürfte das Pendel etwas auf die negative Seite schlagen. Allerdings dürfte es auch nicht dramatisch werden, da die Risiken ja eigentlich bekannt sind. 

Wie ist der Schweizer Aktienmarkt in diesem Umfeld aufgestellt?

Eigentlich sehr gut, das sehen wir ja in dieser Woche. Die defensiven Aktien können sich gut behaupten. Wir sehen auch bei den regionalen Unterschieden, dass der Schweizer Aktienmarkt attraktiv bleibt. Zusammen mit dem US-Markt hat er weniger stark verloren im Vergleich zu Europa. Das hat sicher damit zu tun, dass die europäische Wirtschaft viel stärker von Russland abhängig ist als jene der Schweiz. Zudem beweist es einmal mehr den defensiven Charakter der Schweizer Börse. 

Welche Schweizer Aktien bieten sich derzeit für Anlegerinnen und Anleger an? 

Wir setzen derzeit den Fokus auf Dividenden- und Qualitätsaktien. Bei Letzteren muss man in der Schweiz ein bisschen aufpassen, da es oft auch Wachstums-Titel sind. Hier haben wir zuletzt eher etwas auf 'Value' gesetzt. Bei den Qualitäts-Werten gefällt uns Geberit. Das Unternehmen ist gut im Markt verankert und kann Preisehöhungen an die Kunden weitergeben. Zudem wird die Bautätigkeit im Verlaufe dieses Jahres weiterhin hoch bleiben. Schindler verfügt über eine sehr starke Marktposition und ein langfristig gut aufgestelltes Geschäftsmodell mit steigenden Serviceerträgen. Kühne+Nagel  profitiert von der hohen Nachfrage nach Logistikdienstleistungen und beschränkten Kapazitäten, ähnlich wie die Deutsche Post

Und bei den Dividenden-Aktien? 

Hier haben wir Orior und Helvetia im Blick. Aber auch Novartis mit einer guten Dividende finden wir derzeit günstig bewertet. 

Novartis hatten Sie bereits vor einem Jahr im Interview mit uns empfohlen. So richtig auf Touren will der Aktienkurs aber nicht kommen…

Das stimmt. Hier zeigt sich vielleicht der sture Teil meiner Persönlichkeit, ich möchte Recht bekommen (lacht). Nein, im Ernst, ein Problem bei Novartis war sicherlich, dass sie seit einigen Jahren auf sehr teure Therapien gesetzt haben, die teilweise noch nicht den erhofften Erfolg zeigen. Das haben sie während der Pandemie sehr stark gespürt. Die Firma braucht etwas Zeit, um sich da wieder herauszufinden. Doch was heute sicher anders ist als vor einem Jahr, ist, dass Novartis nochmals günstiger bewertet ist.