(Bitte beachten Sie auch das Video-Gespräch mit Walter Oberhänsli am Schluss des Interviews)

cash.ch: Herr Oberhänsli, Mitte Januar kam es für Sie am Bezirksgericht Frauenfeld zu einem Freispruch nach einem langjährigen Verfahren. Der Apothekerverband Pharmasuisse hatte 2011 Strafanzeige eingereicht, weil Zur Rose beim Onlineversand rezeptfreier Medikamente die Sorgfaltspflicht verletzt haben soll. Ihre Sicht auf das Urteil knapp ein halbes Jahr später?

Walter Oberhänsli: Ich freute mich natürlich über das Urteil. Die Quintessenz aus dem Fall ist aber zweifellos die Tatsache, dass man den Fortschritt mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln nicht aufhalten kann. Die Strafanzeige gegen mich hatte wohl das Ziel, mich persönlich zu schwächen. Letztlich war die Anzeige indes auch kontraproduktiv in dem Sinn, dass die Regelung überall in den Medien wieder ein Thema war: Dass man überall in Europa ohne Arztrezept Aspirin online bestellen kann, ausser in der Schweiz. Das ist doch völliger Unsinn. Niemand begreift das.

Seit vielen Jahren beschäftigen Sie Gerichte und Behörden. Die juristischen Auseinandersetzungen werden mit dem Frauenfeld-Urteil wohl kaum zu Ende sein.

Ich sehe diesbezüglich nichts auf dem Radarschirm derzeit (lacht). Offensichtlich ist aber, dass wir wieder vor dem Europäischen Gerichtshof landen werden, nachdem Deutschland erneut ein Festpreissystem für Arzneimittel einführen will. Ansonsten denke ich: Wenn man das Establishment, das etwas zu verlieren hat, angreifen will, dann muss man damit rechnen, dass man auch persönlich angegriffen wird. 

Sie sind ‹von Haus› aus ja Rechtsanwalt. Gefällt Ihnen die juristische Auseinandersetzung?

Je mehr in der Vergangenheit auf der Gegenseite Verteidigungslinien aufgebaut wurden, desto mehr reizte es mich, diese aufzubrechen. Ich fragte mich immer: Wieso soll im Apothekenwesen eine andere Logik gelten wie im richtigen Leben? Wieso soll der Staat protektionistisch einschreiten, um einen Berufsstand zu schützen vor Wettbewerb? Gegen das werde ich mich weiter einsetzen.

Die Digital- und Strategiechefin von Zur Rose sieht eine ‹grosse Erschütterung im Gesundheitswesen› als Folge der Coronapandemie. Sind Sie gleicher Meinung?

Fakt ist, dass die Regulatoren in der Pandemie die Digitalisierung massiv vorangetrieben haben. Das geschah vor allem in Deutschland. In der Schweiz hat offenbar aber niemand den Punch, derart rigoros voranzugehen. Hier redet man lieber über eine elektronische Patientenakte, die dermassen reguliert ist, dass sie in dieser Form garantiert nie zustande kommen wird.

Nach Ausbruch der Pandemie im März 2020 stellten Sie ja ein Gesuch, den Versand rezeptfreier Notfall-, Erkältungs- und Grippe-Arzneimittel befristet zuzulassen. Das Gesuch war wie erwartet chancenlos. 

Im Gegenteil, das Gesuch war aus unserer Sicht sehr chancenreich. Es wäre eine passende Gelegenheit gewesen, ein unsinniges Gesetz für eine Übergangszeit in Frage zu stellen. Aber die Zeit war wohl noch nicht reif dafür.

Aber die langfristigen Folgen der Pandemie spielen Zur Rose langfristig in die Hand?

Das sehe ich auch so. Man sieht das bereits im Bereich der Telemedizin. Es gab in der Pandemie eine Vervielfachung von telemedizinischen Konsultationen. Es werden bereits viele Rezepte auf dem Distanzweg ausgestellt. Es ist offensichtlich, dass man mit diesem Rezept dann nicht einfach automatisch in eine 'stationäre' Apotheke geht. Dann gibt es einen anderen Aspekt: Die Leute haben in der Pandemie digitale Services noch mehr schätzen gelernt, auch aus Angst, in der Apotheke angesteckt zu werden. Da werden sie sich auch in Zukunft fragen: Weshalb kaufe ich mein Arzneimittel nicht online? Pär Svärdson, Gründer und CEO von Schwedens Online-Anbieter Apotea, sagte mir vor einer Woche, dass sich der Bereich E-Commerce im rezeptpflichtigen Bereich innerhalb eines Jahres verdoppelt habe.

Wie beurteilen Sie die Leistung des BAG in der Coronakrise?

Ich finde, das BAG hat als Krisenmanager in der Summe eine gute Figur gemacht.

Wirklich? Die Kommunikationspolitik des BAG war bisweilen irritierend und wenig vertrauensfördernd.

Ich sehe das nicht so negativ. Ich versuche ja, immer halb volle statt halb leere Gläser zu sehen. Insofern finde ich es gut, dass das BAG eine derartige Lead-Funktion übernommen hat.

Wie hat die Schweiz die Pandemie bislang generell gemeistert?

Auch hier ist mein Urteil positiv. Ich persönlich bin jetzt zweimal geimpft, ich hatte mich ganz normal angemeldet bei der kantonalen Impfzentrale, ohne Netzwerk oder irgendwelche Beziehungen. Sicher hätte der Staat vielleicht etwas schneller voranschreiten und mehr outsourcen können. Aber es funktionierte doch alles sehr gut.

Haben Sie für Zur Rose ein oder mehrere Firmen-Vorbilder?

Amazon mit der leidenschaftlichen Kundenfokussierung ist sicher ein Vorbild. Auch Zalando gehört dazu. Die Firma konnte sich gegen Amazon in Europa mit einem relativ geringen Mitteleinsatz behaupten. Ich glaube zum Beispiel, Zalando ist für Kunden die bessere Wahl für den Kleidungskauf als Amazon. Schliesslich ist auch Apotea ein Vorbild.  Svärdson hatte bei der Gründung kaum eine Ahnung vom Apothekenwesen, aber er transferierte seine Kenntnisse vom Buchhandel in das neue Geschäft. Apotea ist heute Schwedens Nummer eins mit gigantischen Erfolgszahlen. 

Zur Rose will ja auch massiv wachsen, vor allem in Deutschland, wo mit der 2012 übernommenen Doc Morris zwei Drittel des Gruppenumsatzes erzielt werden. Da fragt man sich: Wird Zur Rose auch einmal zu einem Online-Giganten und zu einer Daten-Krake wie Amazon?

Wir sollten uns in Europa bewegen und nicht darauf warten, bis uns Amazon die Butter vom Brot nimmt. Und Zur Rose ist eine sehr gute Antwort auf die Frage der Daten-Thematik. Viele Leute haben Angst davor, dass ihre Daten in irgendeiner Cloud landen, worauf das US-System Zugriff nehmen könnte. Insofern haben wir in Europa eine gute Ausgangslage dafür, etwas zu schaffen, das mehr Vertrauen schafft als Amazon.

Ihnen schwebt für Zur Rose etwas viel Grösseres vor als bloss eine Online-Versandapotheke, nämlich ein Öko-Gesundheitssystem. Können Sie Ihre Pläne und Visionen umschreiben? 

Schauen Sie: Die Pharmaindustrie gibt viele Milliarden für ihre Top-Produkte aus, die dann in ein Distributionssystem gelangen, das seit über 800 Jahre besteht und in dem die Apotheken eine wesentliche Rolle spielen. Letztlich muss aber die Wirksamkeit der Medikation erhöht werden. Wir wollen weg vom rein transaktionalen Modell. Wir finden, mit der Übergabe des Medikamentes ist der Prozess nicht abgeschlossen. Er fängt erst an. 

Das heisst?

Wir wollen den Kunden einen ganzheitlichen Service bieten, dies mit Einbezug von Drittparteien. Das sind zum Beispiel Entwickler von Apps. Unsere Vision ist es, eine Welt zu schaffen, in der die Menschen ihre Gesundheit mit einem Klick managen können. Hinter dieser Vision steht auch unser neuer Technologiechef Madhu Nutakki. Er war lange Jahre bei der US-Gesundheitsorganisation Kaiser Permanente tätig, zuletzt in leitender Funktion bei Digital Health Applications and Platforms. Er bringt viel Erfahrung im Bereich Managed Care und ganzheitliche Gesundheitsbetreuung mit. Wir werden also eines Tages nicht mehr bloss das Medikament verkaufen, sondern dessen Wirksamkeit.

Im letzten Jahr und im ersten Quartal wuchs Zur Rose langsamer als Ihr grösster Konkurrent Shop Apotheke, mit dem Zur Rose rund zwei Drittel des deutschen Marktes kontrolliert. Der Shop-Apotheke-CEO begründete den Unterschied süffisant damit, dass bei Zur Rose wohl zu viele Management-Kapazitäten durch die zahlreichen Übernahmen absorbiert würden. Stimmt das?

Es liegt in der Natur der Sache, dass Akquisitionen Ressourcen binden. Ich muss aber auch widersprechen. Unser Ziel war, bis zur Einführung des elektronischen Rezeptes in Deutschland eine maximale Kundenbasis zu haben. Das haben wir erreicht. Kommt dazu, dass wir nicht in ein Kundensegment investieren wollten, wo der Fokus auf Papierrezepte liegt. Shop Apotheke hat dort durchaus Wachstum erzielt letztes Jahr, um dann in diesem Jahr wegen des Bonusverbots wieder zu verlieren. Ich meine, unser Weg ist der richtige. Schauen Sie sich die jeweiligen Kundenzahlen an.

Die obligatorische Einführung des elektronischen Rezeptes in Deutschland ab 2022 – eine Testphase beginnt am 1. Juli in Brandenburg und Berlin - ist der grösste künftige Wachstumstreiber für Zur Rose. Der Gruppenumsatz soll damit auf mittlere Frist auf 4 Milliarden steigen. Was macht Sie so zuversichtlich?

Wir gehen davon aus, dass die Online-Durchdringung bei rezeptpflichtigen Medikamenten in Deutschland in drei bis fünf Jahren 10 Prozent erreichen wird. Aber schauen Sie: Apotea ist sogar überzeugt davon, dass die E-Commerce-Penetration im Apothekenmarkt in fünf Jahren bei über 50 Prozent liegen wird. Ich bin sehr überzeugt, dass dieses Wachstum kommen wird. Und dass die Fantasie, die im Aktienkurs von Zur Rose abgebildet ist, keiner Fehlbeurteilung der Lage entspricht.

Die letzte Kapitalerhöhung wurde untere anderem auch damit begründet, dass weitere Übernahmen getätigt werden sollen. In Spanien wurde mit Promofarma bereits eine bedeutende Akquisition getätigt. Können Sie sagen, wo weitere mögliche Übernahmeziele liegen?

Heute haben wir eher den Fokus auf Technologiefirmen, die in unser Ökologie-System passen würden. Die Märkte ausserhalb der Schweiz und Deutschland befinden sich eher in einer Anfangsphase. Dennoch haben wir punkto geografischer Expansion einige Ziele auf dem Radar. Konkretes gibt es dazu allerdings noch nicht zu sagen.

Nochmals zu Amazon. Im letzten November wurde ‹Amazon Pharmacy› angekündigt: Kunden in den USA können also bei Amazon online verschreibungspflichtige Medikamente bestellen. Wie realistisch ist ein solcher Markteintritt von Amazon in Europa? 

Der Markt in Europa ist sehr attraktiv, und mich würde es sehr wundern, wenn sich Amazon dies nicht genauer anschauen würde. Letztlich können wir das nicht beeinflussen. Aber selbst wenn Amazon eine grosse Rolle spielen würde, könnten wir uns behaupten. Wir sind, erstens, bereits etabliert im Markt. Und zweitens, sollte Amazon tatsächlich kommen, hätten wir unsere Ökosystem-Strategie schon weit ausgebaut und mit dem elektronischen Rezept in Deutschland schon viele Neukunden gewonnen.

Amazon könnte es sich einfach machen und Zur Rose übernehmen.

Das läge dann natürlich nicht in meiner Hand. Dies hätten unsere Aktionäre zu entscheiden.

Der Aktienkurs von Zur Rose stieg von 100 Franken im Frühling letztes Jahr auf über 500 Franken im Februar 2021. Kommt Ihnen dieser Kursanstieg manchmal nicht etwas unheimlich vor?

Ich äussere mich nicht zur Aktienkursentwicklung. Die Fantasie hat den Kurs sicher beflügelt. Diese ist in Bezug auf die Wachstumschancen aus meiner Sicht auch gerechtfertigt. Soviel kann ich sagen.

Seit dem 9. Juni kam es laut SIX zu zwei umfangreichen Aktienverkäufen durch Mitglieder der Führungsgremien von Zur Rose. Ein Verwaltungsrat schlug Aktien im Wert von rund 3 Millionen Franken los, ein Geschäftsleitungsmitglied verkaufte Titel für rund 1,3 Millionen Franken. Waren Sie unter den Verkäufern?

Wir kommunizieren keine Details zu solchen Transaktionen. Das dient auch dem Schutz der entsprechenden Personen. Letztendlich muss es einem Verwaltungsrat oder einem Geschäftsleitungsmitglied auch möglich sein, einen Teil der Aktien zu verkaufen.

Sie sind seit 16 Jahren CEO von Zur Rose und werden in diesem Jahr 63 Jahre alt. Ist die Nachfolge-Regelung schon ein Thema? 

Das ist derzeit noch kein Thema. Aber beachten Sie, dass die Führung schon heute auf viele gescheite Köpfe in breiten Altersgruppen verteilt ist.

Der Steckborner Walter Oberhänsli (geb. 1958) war von 1996 bis 2011 Präsident des Verwaltungsrats von Zur Rose, seit 2005 ist er Delegierter des Verwaltungsrats und CEO der Firma. Bis Ende 2004 war er selbstständiger Rechtsanwalt in Kreuzlingen. Oberhänsli studierte Rechtswissenschaften an der Universität Zürich. Er gründete Zur Rose schon im Jahr 1993 zusammen mit 21 Ärztinnen und Ärzten.

Die Zur Rose-Gruppe mit Sitz in Frauenfeld ist mit ihren Marken Zur Rose und DocMorris Europas grösste Versandapotheke und eine der führenden Ärztegrossistinnen in der Schweiz. Die operative Zentrale befindet sich in Frauenfeld, von wo aus auch der Schweizer Markt bedient wird.