Der Kosmetikkonzern Estée Lauder hat den Wandel hin zum Online-Retail verpasst. Seit drei Jahren sinkt der Umsatz, die operative Marge ist von 24 auf 15 Prozent eingebrochen und vom Reingewinn von über 2,6 Milliarden Dollar dürften im laufenden Geschäftsjahr noch 500 Millionen Dollar übrig bleiben.

Der Aktienkurs ist in der Folge vom Allzeithoch bei über 370 Dollar im Dezember 2021 auf etwa 50 Dollar gefallen. Das war im April dieses Jahres. 

Diese Bewegung hat eine deutliche Bewertungskorrektur mit sich gebracht: Der Unternehmenswert zum Umsatz notiert auf einem 14-Jahres-Tief, der Unternehmenswert zum EBITDA ist auf dem Stand von 2016. Lohnt sich nun der Kauf dieser Value-Titel?

Richtungsänderung und personelle Wechsel

Estée Lauder hat personelle Konsequenzen aus dieser massiven Fehleinschätzung gezogen: Seit Januar dieses Jahres wird der US-Kosmetikkonzern von Stéphane de La Faverie geleitet. Dieser verkündete unmittelbar nach Stellenantritt eine neue Strategie mit Fokus auf den Ausbau der Online-Kanäle.

Dafür wird viel investiert: Ein nicht kleiner Teil des Margeneinbruchs (fast 5 Prozent) sind den Restrukturierungskosten zuzuschreiben. Sie bestehen im Wesentlichen aus «kundenorientierten» Investitionen. Auch werden Schlüsselpositionen neu besetzt, um der Stossrichtung Nachdruck zu verleihen. 

Dazu hat Estée Lauder kürzlich eine hochrangige Führungskraft von Nestlé abgeworben. Aude Gandon wird die erste Chief Digital und Marketing Officer. Sie soll die Online-Präsenz für Tom-Ford-Düfte oder die La-Mer-Gesichtspflege ausbauen. Die einstige Fehleinschätzung - wohlhabende Kundschaft bevorzugt den Laden-Vertriebskanal - soll damit korrigiert werden.

Starkes Kursmomentum und vorsichtige Analysten

Seit Januar steigen die Estée-Lauder-Aktien um über 25 Prozent. Seit dem 8-Jahre-Tief im April haben sich die Titel verdoppelt.

Aktienkursverlauf von Estée Lauder in Dollar.

Analysten haben dies entweder noch nicht erkannt oder trauen der Entwicklung nicht. Im Durchschnitt raten die Experten zum Halten und veranschlagen das Kursziel 15 Prozent unter dem derzeitigen Kursniveau. Nur sechs der 28 Analysten würden die Aktien kaufen.

Der Ausblick ist dabei nicht schlecht: Bis 2028 rechnet der Marktkonsens mit einer Verdreifachung des Gewinns. Aufgrund der zurückhaltenden Analysteneinschätzungen dürfte es sich bei diesem Konsens um eine eher konservative Schätzung handeln.

Basierend auf diesen Gewinnerwartungen liegt das vorwärtsgerichtete Kurs-Gewinn-Verhältnis bei 23,7. In diesen Zahlen ist bereits viel von der künftigen Erholung eingepreist, aber noch nicht alles.

Margenstabilität und -höhe sowie Wachstum

Laut Bank of America dürfte das Schlimmste nun vorbei sein. Der chinesische Markt zeigt erste Lebenszeichen, und das Management von Estée Lauder kommt mit der neuen Strategie zur Rückgewinnung von Umsatzwachstum und zweistelligen Margen voran. Die für den Kosmetikkonzern zuständige Expertin bestätigt ihre Kaufempfehlung mit einem Kursziel von 110 Dollar. Das entspricht einem Aufwärtspotenzial von etwa 17 Prozent.

Besonders im Vergleich mit dem Branchenprimus L’Oréal wirkt das Wachstumspotenzial in Kombination mit der Bewertung attraktiv. L’Oréal wird aktuell mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von knapp 25 für die Gewinne in drei Jahren gehandelt. Das sind 5 Prozent mehr als beim US-Konzern. Doch besonders beim Unternehmenswert zum Umsatz wird der Bewertungsabschlag deutlich: Estée Lauder ist 46 Prozent günstiger.

Diese Bewertungsdifferenzen sind auf die Margen zurückzuführen. Einerseits weist L’Oréal eine hohe Gewinnstabilität auf: In den vergangenen zehn Jahren schwankte die Reingewinnmarge zwischen 12,8 und 15,8 Prozent. Bei Estée Lauder betrug die Schwankungsbreite hingegen 3,7 bis 13,3 Prozent. Andererseits rechtfertigen die höheren Margen die Bewertungsprämie von L’Oréal.

Doch: Diese Volatilität - auch operatives Leverage genannt - ist in schlechten Zeiten ein Malus, in guten Zeiten wirkt sich dies hingegen positiv auf das Ergebnis und somit auch auf die Bewertung aus. Das historische KGV von Estée Lauder liegt deshalb mit 26,5 etwas über der Bewertung von L’Oréal (25). 

Kann das neue Management die Fehltritte schnell beheben und das Unternehmen auf Wachstumskurs zurückführen, dürfte die Bewertung erneut über den historischen Durchschnitt steigen. Auf Basis des konservativ geschätzten Gewinns pro Aktie für das Jahr 2028 von knapp 4 Dollar und einem KGV von 26,5 dürften Kurse von mindestens 106 Dollar möglich sein.

Luca_Niederkofler
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