So billig waren die Aktien von Volkswagen noch nie: Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) der Namenaktien liegt bei sage und schreibe 3,2 auf die nächstjährigen Ergebnisse. Sprich: Der Kaufpreis des Konzerns kann mit nur etwas mehr als drei Jahresgewinnen finanziert werden. Selbst während der Finanzkrise, der Euro-Krise vor 14 Jahren oder der Pandemie waren die Papiere des zweitgrössten Automobilkonzerns der Welt nicht so günstig.

Derart tiefe Werte sind üblicherweise Unternehmen vorbehalten, die kurz vor einer kompletten Neukapitalisierung oder Insolvenz stehen. Zudem wird mit einem Einbruch des operativen Geschäfts gerechnet. Beispielsweise lag das KGV von General Motors vor der Verstaatlichung im Jahr 2010 bei etwa 1. 

Was ist bei Volkswagen los - und ist dies «die» Einstiegschance? Eine kurze Einschätzung.

Überraschend starkes fundamentales Geschäft

Die Unsicherheiten im Automobilmarkt sind gigantisch: Klimaziele, Handelskriege, Lieferkettenengpässe und chinesische Fahrzeugproduzenten, die Europa und die USA für sich gewinnen möchten. Selbst Platzhirsch Tesla hat seit vielen Monaten Wachstumsschwierigkeiten.

Vom Dutzend der grössten Automobilkonzerne der Welt weisen die Volkswagen-Aktien die schlechteste Kursperformance seit etwa vier Jahren auf. Über 65 Prozent haben die Papiere der Wolfsburger nachgegeben. Zwar liegt die Mehrheit der Auto-Aktien ebenfalls im Minus, doch keiner kann Volkswagen das Wasser reichen. Positiv aufgefallen sind dagegen - vielleicht wenig überraschend - BYD mit einem Anstieg von knapp 110 Prozent und Tesla mit über 50 Prozent Gewinn.

Kursverlauf der Volkswagen-Vorzugsaktien in Euro.

Was hingegen sehr viel mehr überrascht, ist die Entwicklung des fundamentalen Geschäfts. Seit Jahren steigert Volkswagen Umsatz und operative Marge. Die Ebene Reingewinn unterliegt zwar höheren Schwankungen als die zuvor genannten Kennzahlen, doch erwirtschaftet Volkswagen seit 20 Jahren - mit Ausnahme im Jahr 2015 - ausschliesslich Gewinne. 

Auch dieses Jahr dürfte es nicht anders sein. Zwar wird mit einem Reingewinnrückgang von 12 Prozent auf etwa 9 Milliarden Euro gerechnet, doch bereits nächstes Jahr wird ein Ausgleich dieser Delle erwartet. Die tendenziell höheren Gewinnschwankungen machen es möglich.

US-Handelszölle als grösstes Risiko

Trotz des Kurszerfalls raten Analysten zum Kauf der Volkswagen-Titel. Konkret stehen 14 Kaufeinstufungen, zehn Halteempfehlungen und einem Verkaufsrating gegenüber. Gefahren einer Insolvenz sehen sie nicht. Der Altman-Z-Werts (1,2) ist dagegen leicht im roten Bereich. Diese Kennzahl gibt Auskunft über die Insolvenzwahrscheinlichkeit eines Unternehmens.

Laut UBS sind die potenziellen US-Zölle auf Automobile das grösste Risiko. Je nach Höhe könnten sie die operative Marge der Wolfsburger von 15 auf 13,5 Prozent reduzieren. Ebenfalls dürfte der freie Cashflow auf null sinken, so die UBS. Der Konsens geht dagegen von einem freien Cashflow von über 6 Milliarden Euro und ebenfalls einer operativen Marge von 13,5 Prozent aus. Und damit blieben selbst unter enorm adverser Szenarien die Resultate des Autokolosses im positiven Bereich. 

Der negative Einfluss dürfte überdies von kurzer Dauer sein. Bereits in zwei Jahren sollen die Lieferströme an die neuen Gegebenheiten angepasst sein: Der freie Cashflow wird auf erneut 11 Milliarden Euro geschätzt und die operative Marge soll 14,7 Prozent erreichen. Der Gewinn pro Aktie wiederum wird in zwei Jahren bei 37 Euro gesehen - mehr als das Doppelte in diesem Jahr.

«Too big to fail»

Mutige Anleger werden bei dieser Deep-Value-Aktie mit einer attraktiven Dividendenrendite belohnt. Volkswagen hat zwar die Ausschüttungen in den vergangenen drei Jahren an die neuen Gegebenheiten angepasst und gedrittelt, die Rendite beträgt jedoch weiterhin 7,7 Prozent.

Das Risiko einer Insolvenz kann nie gänzlich ausgeschlossen werden - bei Volkswagen vielleicht sogar etwas weniger als bei anderen Konzernen. Gleichzeitig dürfen aber die strategischen Interessen der deutschen Regierung nicht vergessen werden: Niedersachsen hält 20 Prozent am Automobilkonzern, und etwa 300’000 Menschen in Deutschland stehen in einem direkten Arbeitsverhältnis mit dem Unternehmen. 

Einen Abschreiber auf die bisherige Beteiligung und eine anschliessende Verstaatlichung oder Neukapitalisierung - inklusive allfälliger Unsicherheiten rund um die Beschäftigung dieser Menschen und dieser der Zulieferbetriebe - dürfte die Regierung mit zuvorkommenden Massnahmen zu vermeiden versuchen. Volkswagen ist einfach «too big to fail».

Luca_Niederkofler
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