Grand Seiko war bei ihrer Gründung 1960 die noble Untergruppe von Seiko. 2010 wurden die beiden Marken vollständig auseinanderdividiert und agieren seither unabhängig voneinander – Grand Seiko streng mit Fokus auf Japan. Das änderte sich 2017 mit dem Entscheid, die Welt zu erobern – mit grösseren Kollektionen, neuen Designs, neuem Marketingansatz. In Europa ist dafür Frédéric Bondoux (57) in Charge, ein vormaliger Topmanager der Swatch Group. Wir haben uns mit ihm über seinen Posten bei Grand Seiko via Google Meet unterhalten – für ihn ein offensichtlich grossartiger Knochenjob. 

Herr Bondoux, Sie gaben bei der Swatch Group Ihre Karriere auf für eine japanische Uhrenmarke. Wie kams?

Frédéric Bondoux: Verschiedene Gründe, wie immer. Meine Karriere hatte ich bei Omega gestartet, im Controlling, dann kümmerte ich mich um die europäischen und dann um asiatische Märkte. Nach knapp vier Jahren sagte Herr Hayek senior zu mir: «Frédéric, wir brauchen für Longines einen wie Sie in Frankreich.» Ich sagte zu, nachdem er mir versprochen hatte, dass ich zurück nach Asien kann. Er sagte: «Keine Sorge, ich gebe Ihnen mein Wort.» Nach drei Jahren bot er mir an, Manager für Thailand zu werden. Um es kurz zu machen: Ich hatte inzwischen in Paris meine Frau kennengelernt, und sie wollte absolut nicht umziehen. So setzte ich meine Karriere mit einem Projekt in China fort. Danach habe ich nichts mehr Interessantes für mich gesehen. Weil ich nicht mobil war. Da kamen die Japaner mit dieser ziemlich speziellen Aufgabe: fünf Jahre, um Europa zu testen und aufzubauen. 

Von null?

Von null. 

Ein Sprung ins kalte Wasser.

Nein, es war nicht kalt. Nur sehr anders als das, was ich bislang gemacht hatte: In meinen vorherigen Jobs war ich für eine Aufgabe zuständig. Hier hatte ich ein weisses Blatt Papier und konnte etwas neu anfangen. 

Was haben Sie daraus gemacht? 

Viel. Zum Beispiel stellte ich nur Leute ein, die mir ähnlich sind, Leute, denen ich zuhören mag, mit einem Arbeitsethos und einer Vorstellung von Vertrauen wie ich. Inzwischen sind wir 23. 

Und wie haben Sie das Geschäft aufgezogen? 

Ein Land ums andere, inzwischen sind wir in 15 Ländern. Den Umsatz in Europa haben wir vervierhundertfacht. Klingt nach viel, war aber nicht allzu schwierig, ich hatte ja auf tiefem Niveau angefangen. Worauf ich echt stolz bin: Wir bauten in drei Jahren einen Vertrieb auf mit aktuell 103 sehr guten Verkaufsstellen. Da hat Covid uns fraglos geholfen.  

Inwiefern?

Die Stimmung war wegen Covid schlecht und die Leute alle etwas verkniffen. Und einige unserer Mitbewerber bauten in der Zeit ihr eigenes Retailnetz auf, mit Monobrand-Boutiquen. Beides war gut für uns. Ich reiste herum, konnte sagen, schaut mal her, ich habe etwas Neues für euch, etwas Geniales – und viele auch von den Produkten überzeugen. So schafften wir es innerhalb von einem Jahr, eine recht solide Struktur in Bezug auf den Verkauf aufzubauen. 

Und jetzt, wie geht es weiter, was ist Ihr Ehrgeiz?

Ich sage immer, ich arbeite für die nächste Generation. Wenn meine Kinder ins Alter kommen, dass sie sich eine schöne Uhr kaufen wollen, soll Grand Seiko eine der fünf potenziellen Marken sein, die sie in ihre Selektion einbeziehen. Allgemeiner ausgedrückt: Ausserhalb der Kosmetikbranche gibt es keine globale japanische Luxusmarke. Das werde ich mit Grand Seiko ändern.

Wie beschreiben Sie die Marke in einem Satz?

Sie ist perfekt in Bezug auf die Verarbeitung und in Sachen Exzellenz.

Wie Rolex.

Diesbezüglich ähnlich, aber natürlich viel kleiner. Rolex macht über eine Million Uhren im Jahr, wir zwischen 50’000 und 60’000. 60 Prozent im Herstellungsprozess sind Handarbeit. Was bei uns ist wie bei Rolex, ist, dass auch Grand Seiko vollständig vertikalisiert ist, dass wir ergo die ganze Wertschöpfungskette kontrollieren. 

60 Prozent Handarbeit heisst, für Wachstum brauchen Sie mehr Fachkräfte – was wohl auch in Japan nicht einfach ist.

Stimmt, zumal die Anforderungen sehr hoch sind. Ein Uhrmacher zum Beispiel muss mindestens 10 bis 15 Jahre Erfahrung sammeln, um für Grand Seiko arbeiten zu können. Für mich ist das der Schutzengel der Qualität. 

In diesem Zusammenhang ist oft die Rede von Takumi. Was hat es damit auf sich?

Takumi ist ein staatliches Qualitätssiegel, das an die Erfüllung von sehr anspruchsvollen Bedingungen geknüpft ist. Wie etwa, dass jemand mindestens 60’000 Arbeitsstunden auf seinem Gebiet aufweisen muss, um überhaupt zum Takumi vorgeschlagen werden zu können.

Ein begehrter Titel? 

Sehr. Die Handwerkskunst geniesst in Japan ein sehr hohes Ansehen und die Kunsthandwerker entsprechend ebenfalls. Aber es sind auch Erwartungen an einen Takumi gebunden, etwa dass Können und Wissen stetig verbessert werden. Und es besteht die moralische Pflicht, das alles an die nächste Generation weiterzugeben. Das kann für Azubis sehr intensiv sein: Bei uns müssen sie drei Jahre lang lernen und üben, Zeiger und Indexe herzustellen, und nichts anderes. Erst dann dürfen sie für Grand Seiko arbeiten.

Können Sie ein paar Zahlen mehr preisgeben zu Grand Seiko?

Nein. Das darf ich nicht.

Sie haben bei null angefangen, aber nicht mit null – was hat den Ausschlag gegeben, dass Sie den Job annahmen?

Ich besuchte im Sinne einer Feldrecherche die Manufaktur in Morioka, um mir ein Bild von Grand Seiko zu machen. Und zwar bevor ich mich für den Job entschieden hatte. Was mich schwer beeindruckt hat, waren die viele Handarbeit und die Hingabe, die die Uhrmacher dafür haben. 

Gibt es einen Unterschied in der Herangehensweise, verglichen mit Schweizer Manufakturen?

Eine grosse Gemeinsamkeit ist das Ziel, möglichst präzise Zeitmesser herzustellen. Die Unterschiede sind eher feinstofflicher Natur.

Wie meinen Sie das?

Mein Grossvater pflegte zu sagen: Es gibt Nächte, in denen die Sterne am Himmel stehen. Und es gibt Nächte, in denen die Sterne am Himmel leuchten. Die beiden Kulturen sind schwer zu vergleichen, ihre Herangehensweisen auch. Wir sprechen zum Beispiel nicht nur von Emotionen, sondern auch von Schönheit und Harmonie. Der Einbezug dessen, was uns draussen vor der Tür umgibt, ist sehr wichtig. Auch das Spiel von Licht und Schatten. 

Wer kauft sich eine Grand Seiko?

Wir haben Sammler von grossen Schweizer Marken, aber auch viele junge Leute. In unserer Boutique an der Place Vendôme – meinem Laboratorium – erzielen wir 50 Prozent des Umsatzes mit Kunden, die jünger sind als 35. Der Grund dafür ist, dass diese Generation auf der Suche ist nach etwas anderem, etwas Neuem, nach einer anderen Sichtweise auf das Leben. Und sie finden dies oft in Asien, in Südkorea, in Japan.

Sind Sammler eine wichtige Klientel für Grand Seiko?

Alle sind wichtig, und alle sind anders. Die Generation meines Vaters etwa kaufte eine Uhr fürs ganze Leben. Meine Generation hat angefangen, sich eine schöne Uhr zu leisten, dann eine zweite, eine dritte. Und von den Erstkäufern gewinnen wir vielleicht einen von zehn. Sie sind sehr wichtig. Denn wer einmal eine Grand Seiko gekauft hat, kauft wieder eine. 

Gibt es Wartelisten?

Jeder Markt macht seine Verkaufsprognosen von Hand und, darauf basiert, die Planung der Produktion. Wenn man sich verschätzt, was vorkommt, kann es Wartezeiten von ein paar Monaten geben. 

Grand Seiko hat vor Kurzem zwei Modelle vorgestellt, die es nur in Europa gibt. Warum?

Das ist ein Stück unserer Firmenphilosophie. Grand Seiko arbeitet generell viel mit Kleinserien und limitierten Auflagen. Es gibt nach wie vor immer wieder Modelle, die nur in Japan verkauft werden. Mit den beiden Modellen SBGW267 und SBGW269 – Asakage und Yukage – haben wir nun erstmals etwas exklusiv in Europa. 

Welches sind Ihre wichtigsten Tasks?

Zwei Dinge: die Sichtbarkeit und die Bekanntheit erhöhen. 

Dafür nehmen Sie ja neu als eine von sehr wenigen ausländischen Uhrenmarken an der Watches & Wonders teil. Wie schafften Sie es, in diese eingeschworene Gesellschaft hineinzukommen?

Ich habe ja ein gutes Netzwerk in der Schweiz und kenne diejenigen, die da zuständig sind, und habe ihnen gesagt, hört mal, wir würden gern mitmachen. Nach drei Wochen riefen sie zurück und sagten, wir würden uns freuen, euch dabeizuhaben.

Ah, so einfach also. Und was haben Sie sich auf die Fahne geschrieben?

Erstens, bekannt zu machen, dass Grand Seiko als eigenständige Marke komplett unabhängig von Seiko agiert. Punkt zwei war die Lancierung der Kollektion Evolution 9, die das neue Gesicht der Marke in der Zukunft sein wird und mit der wir neue Kundengruppen erreichen werden. Der dritte Punkt war die Lancierung des Tourbillons Kodo Constant Force, der bisher kompliziertesten Uhr von Grand Seiko, ausgezeichnet mit dem GPHG 2023. Sie markiert sozusagen das Tor zu einer neuen Klasse von Kalibern mit äusserst anspruchsvollen Komplikationen.

Von Ihren fünf Jahren sind drei durch. Wo stehen Sie, wohin gehen Sie?

Wir sind vor unserem Zeitplan. Ich bin echt glücklich in meinem Job. Und Seiko ist gross, die Perspektiven sind toll.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Handelszeitung unter dem Titel: "«Diese Generation ist auf der Suche nach etwas Anderem, etwas Neuem»"