cash.ch: Herr Neumann, wie beurteilen Sie das Schweizer IPO-Jahr 2021?

Andreas Neumann: Es war ein durchschnittliches Jahr. Während im ersten Halbjahr 2021 mit den SIX-Börsengängen PolyPeptide und Montana Aerospace sowie Kursaal Bern an der BX Swiss gleich drei Unternehmen ein erfolgreiches IPO realisierten, wurde die Stimmung im Herbst gedämpfter und auch volatiler. Einige angekündigte IPOs wurden sistiert oder verschoben. Mittlerweile ist die Stimmung aber wieder besser.

Börsengänge hängen von der Lage an den Aktienmärkten ab. Man geht wegen Inflationsängsten und Zinserhöhungen 2022 von volatileren Märkten aus. Ist das Umfeld nicht doch schlechter als letztes Jahr?

Betrachtet man den Anlagenotstand, herrscht bei den Investoren noch immer ein grosser Investitionsbedarf bei Aktien. Sollten die Zinsen vor allem in den USA erhöht werden, und mit einer Verzögerung auch in Europa, stellt sich die Frage, ob es Sinn machen würde, einen grossen Teil des Geldes in den Obligationenmarkt zu investieren. Es bieten sich eher Lösungen an, welche für Investoren schon länger interessant sind: Immobilien und Aktien. Daher gehe ich stark davon aus, dass es Platz für weitere Börsengänge gibt.

Welchen Ausblick tätigen Sie für das Schweizer IPO-Jahr 2022? 

Wir erwarten auch für 2022 mehrere IPOs an der SIX Swiss Exchange, wobei gewisse einen sogenannten ‘Dual Track’ fahren. Das heisst, dass sowohl ein IPO wie ein Verkauf in Erwägung gezogen wird. Bezüglich Grösse, Branche und Transaktionsart der Börsengänge, das heisst IPO gegenüber Spin-off, dürfen sich die Investoren auf einen guten Mix freuen.

Stehen bestimmte Branchen im Vordergrund?

Einen richtigen Branchenfokus gibt es nicht.

Ein Blick zurück auf die letzten Jahre zeigt: Viele Unternehmen, über die am Markt als Börsengang-Kandidaten spekuliert wird, verschwinden quasi völlig von der Bildfläche. Was passiert da?

Zum grössten Teil dürfte es daran liegen, dass einige Unternehmen zu grosse Pläne haben. Beispielsweise waren die Preisvorstellungen zu hoch, genauer gesagt waren die Preisbandbreiten nicht adäquat angesetzt. Bei einigen Unternehmen, vor allem kleineren, waren auch mehrere notwendige Voraussetzungen nicht erfüllt. Es braucht eine bestimmte Grösse, eine gewisse Zahl frei handelbarer Aktien und eine erforderliche Liquidität an der Börse.

Stehen bei einigen vermeintlichen IPO-Kandidaten nicht schon von Beginn an eine konkrete Verkaufsabsicht oder andere Pläne der Firma im Vordergrund?

Das kann bei einigen kleineren Firmen der Fall sein.

Ein grosses Schweizer IPO, nämlich On, fand 2021 im Ausland statt, auch viele Schweizer Tech-Firmen gehen im Ausland an die Börse. Ist die SIX für gewisse Branchen nicht mehr attraktiv genug?

Das würde ich nicht sagen, ein spezifischer Trend ist nicht erkennbar. Vieles liegt ein Stück weit an einer verzerrten Wahrnehmung. Manche ausländischen Firmen lassen sich an der SIX kotieren: Denken Sie etwa an AMS oder Pierer Mobility. Teils verlegen die Unternehmen ihren Sitz hierher, um sich an der Schweizer Börse kotieren zu lassen. Jedes Unternehmen muss sorgfältig abwägen, welcher Börsenplatz der geeignetste ist. Handelsplätze mit einem Branchenfokus können ein Grund für einen anderen Börsenplatz sein. Was die häufig erwähnten höheren Bewertungen betrifft, bedarf es einer genauen Analyse, da dies pauschal nicht richtig ist. Kleinere und mittelgrosse Unternehmen dürften aufgrund der höheren Komplexität gut beraten sein, primär die Heimbörse in Erwägung zu ziehen. Die SIX geniesst international einen guten Ruf.

Der Aktien-Zuteilungsmechanismus bei IPOs sorgt bei Investoren immer für viel Diskussionen, vor allem bei begehrten Firmen. Können Sie den Mechanismus erklären? 

Die federführenden Banken, in der Fachsprache ‘Global Coordinators’ genannt, bilden Investorenkategorien. Das sind Institutionelle Investoren wie Pensionskassen, Asset Manager oder Hedge Fonds, Private Banking, aber auch Mitarbeitende sowie ‘Friends & Family’. Zunächst schlagen die Banken eine Allokation vor. Bei äquivalenten Rahmenbedingungen werden für die jeweiligen Investorenkategorien grundsätzlich auch gleiche Zuteilungen vorgesehen. Das Unternehmen äussert sich in der Regel zum Vorschlag und nimmt auch Einfluss auf die Zuteilung. Bei gut laufenden Börsengängen, so genannten ‘Hot Issues’, ist fast immer zu beobachten, dass viele Investoren keine Zuteilung erhalten. Dies ist keine Willkür: Die Zuteilungsgrundsätze sind in einer Richtlinie der Schweizerischen Bankiervereinigung geregelt.    

'Gute' Bankkunden mit genügend Geld auf dem Konto kommen viel eher an begehrte IPO-Aktien, hört man oft. 

Retail-Investoren, die sich für eine Zuteilung interessieren, gehen bei stark nachgefragten IPOs in der Tat nicht selten leer aus, was zu Enttäuschungen führt. Solche Anleger betreiben oft zu wenig Aktienhandel, zumal mit kleineren Beträgen. Die ausbleibende Zuteilung dürfte aber auch im Sinn dieser Investoren sein, denn so können Kleinstpositionen in den Depots vermieden werden. 

Vor allem in den USA gab es einen grossen Rummel um die so genannten SPACS, also leere Mantelgesellschaften, die das Ziel haben, durch einen Börsengang Geld zu sammeln und dieses Geld zum Erwerb und zur Fusion mit einem privaten Unternehmen zu verwenden. Wie beurteilen Sie SPACS aus Investorensicht?

In den USA gab es im ersten Covid-Jahr eine ausgesprochen hohe Anzahl von SPACS, sogar mehr als klassische IPOs. Inzwischen ist diese Art von Emission in den USA deutlich weniger häufig anzutreffen. Nach und nach haben weitere Länder entsprechende Regulierungen implementiert, sodass es auch international zu SPACS kam. In der Schweiz gab es im Dezember 2021 einen ersten erfolgreichen SPAC-Börsengang. Entscheidend für SPACS wird sein, ob innerhalb des limitierten Zeitrahmens ein Ziel gefunden wird. Sofern dies gelingt, kann das Investment aus Investorensicht durchaus attraktiv sein. Das Netzwerk und Know-how der relevanten Personen ist somit entscheidend. Da global betrachtet inzwischen angeblich mehr SPACS als sinnvolle Ziele existieren, dürfte die Rechnung nicht in jedem Fall aufgehen.   

Im letzten Jahr kam es mit Vifor Pharma zu einer Ankündigung einer Grossübernahme in der Schweiz. Das war eine ziemliche Ausnahme in Sachen Firmenübernahmen- und zusammenschlüssen im 2021…

Das ist richtig und selten. Im Jahr 2021 hat es keine Übernahme von SIX-kotierten Schweizer Unternehmen gegeben. Betrachtet man die letzten zehn Jahre, gab es im Schnitt jährlich etwa fünf Übernahmen von SIX-kotierten Firmen. Die Akquisition von Vifor durch die australische CSL Limited wurde Mitte Dezember 2021 angekündigt, worauf der Kurs deutlich anstieg. Mit einer aktuellen Bewertung von rund 10,6 Milliarden Franken wird es die drittgrösste Schweizer Übernahme der letzten zehn Jahre sein. Es kann davon ausgegangen werden, dass bis Ende Januar 2022 der Angebotsprospekt mit weiteren Details publiziert wird.

Wie sehen Sie das Übernahmejahr 2022 in der Schweiz?

Ich gehe davon aus, dass sich die Anzahl Übernahmen wieder in Richtung Durchschnitt bewegen wird. Insofern dürfte die Aktivität etwas zunehmen. Wir erwarten auch weitere einzelne Going Privates, also Börsenrückzüge, von kleineren börsenkotierten Unternehmen mit grossen Ankeraktionären und wenig Marktliquidität. Einen Trend zu mehr Grossakquisitionen erwarte ich nicht.

Bei Vifor wird eine stattliche Übernahmeprämie geboten. Werden diese generell steigen? 

Dies lässt sich nicht pauschal beantworten. Bei freiwilligen Übernahmeangeboten lag die durchschnittliche Prämie in den letzten 10 Jahren im Vergleich zum vorangehenden 60-Tagesdurchschnitt bei rund 21 Prozent, während bei sogenannten Pflichtangeboten die Prämie nur etwa halb so hoch war. Letztere werden ausgelöst, wenn ein Aktionär zum Beispiel die Schwelle von 33,3 Prozent überschreitet. Da er dann in der Regel ein Angebot unterbreiten muss, aber nicht zwingend alle Aktien erwerben möchte, entrichtet er im Normalfall eine deutlich tiefere oder gar keine Prämie.  

Es kam kürzlich zu grossen Aktien-Umplatzierungen, zum Beispiel bei Roche/Novartis oder Nestlé/L’Oréal. Nehmen solche Transaktionen zu, oder täuscht der Eindruck?

In den letzten zwei Jahren gab es in der Tat im historischen Vergleich sogar eine deutlich grössere Anzahl von Umplatzierungen. Diese finden bei börsenkotierten Unternehmen im Normalfall in Form von ‘Accelerated Bookbuildings’ statt, das heisst mittels beschleunigter Platzierungen über Nacht. Allein am 7. September 2021 fanden in der Schweiz an einem Tag vier solche Platzierungen statt, nämlich Huber+Suhner, Softwareone, Vetropack sowie bei Adecco in Form neuer Aktien. Das hat es so in der Schweiz noch nie gegeben. 

Was sind die Gründe für die Zunahme?

Gründe dafür sind der hohe Anlagebedarf im nach wie vor existierenden Tiefzinsumfeld, attraktive Börsenkurse für verkaufswillige Grossaktionäre und die Möglichkeit, auch in volatilen Märkten Platzierungen in sehr kurzer Zeit zu realisieren. Wir gehen davon aus, dass dieser Trend bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen anhält.

Eben, einige Marktbeobachter meinen, dass Grossinvestoren nun einen gewissen Börsenzenit erreicht sehen und Beteiligungen losschlagen, bevor es zu spät ist…

Eine pauschale Antwort hierzu fällt mir etwas schwer. Die Börsen haben in den letzten Jahren, abgesehen von der ‘Delle’ im März 2020, eine sehr starke Performance aufgebaut mit entsprechend hohen Unternehmensbewertungen. Es kann durchaus sein, dass sich gewisse Grossinvestoren im Sinn einer Risikodiversifikation von einem Teil der Beteiligungen trennen. Auf der anderen Seite kann es für Käufer immer noch attraktiv sein, grosse Aktienpakete mit einem Auftrag erwerben zu können. In den meisten Fällen müssen solche Beteiligungen über Jahre aufgebaut werden.

Wegen der gestiegenen Börsen hat eine wachsende Anzahl von Aktien in der Schweiz mittlerweile vierstellige Franken-Summen. Erwarten Sie vermehrt Aktiensplits?

Der Median der Titel im Swiss Market Index liegt derzeit bei 96 Franken. In den vergangenen 10 Jahren lag er jeweils zwischen rund 60 und 120 Franken je Aktie. Somit befinden wir uns gegenwärtig im langfristig ‘normalen’ Bereich, was den Median betrifft. Aber ich gebe Ihnen Recht, die starke Börsenentwicklung seit März 2020 führte dazu, dass inzwischen 38 von 221 SPI-Titeln einen Kurswert von über 500 Franken aufweisen und bei 25 Aktien liegt der Kurs sogar über 1000 Franken, was im internationalen Vergleich sehr hoch ist. Somit dürfte bei einzelnen Unternehmen ein Split in Erwägung gezogen werden. Unternehmen, die Aktien mit einem Nennwert von nur noch 0,01 Franken aufweisen, müssen sich noch etwas gedulden. Voraussichtlich 2023 tritt die nächste Aktienrechtsreform in Kraft, dann wird der Mindestnennwert reduziert, was zusätzliche Aktiensplits ermöglicht.

An der Zusammensetzung des SMI wird immer wieder Kritik geübt, etwa an der sehr starken Gewichtung von Novartis, Nestlé und Roche. Sollte sich etwas ändern?

Die SIX hat ein Reglement verfasst, das die Veränderungen der Indices im Detail erläutert. Diese Transparenz ist für den Markt essentiell und im vorliegenden Fall auch erfüllt. Anspruchsvoll sind jeweils Zu- und Abgänge von ‘Large Caps’, da diese aufgrund der heutzutage relativ hohen Passivierung von Depots, zum Beispiel in Form von ETFs, zu einem 'Rebalancing' führen. Die regelmässige Überprüfung dieser Index-Regeln ist wichtig und auch gelebte Praxis. Ein unmittelbarer Änderungsbedarf lässt sich derzeit nicht ausmachen. Kontinuität von Index-Regeln ist grundsätzlich positiv zu beurteilen.

Vor Jahren kamen Initial Coin Offerings als Alternative zu IPO zur Anwendung. Was ist daraus geworden?

Nach einem vergleichsweise grossen ‘Hype’ vor rund vier Jahren ist es inzwischen deutlich ruhiger geworden. Institutionelle Investoren haben grössere Investments ohnehin nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Da ICOs jeweils ohne Involvierung von Banken stattfinden, kann ich keine qualifizierten Aussagen tätigen. Da viele Privatinvestoren Geld verloren haben, scheint die Nachfrage dieser Investorenkategorie inzwischen spürbar tiefer zu sein.    

Andreas Neumann ist seit 2002 bei der Zürcher Kantonalbank beschäftigt, wo er den Bereich Equity Capital Markets leitet. Er studierte an der Universität Zürich Betriebswirtschaft und doktorierte zum Thema "Fusionen und fusionsähnliche Unternehmenszusammenschlüsse". Neumann unterrichtete an mehreren Fachhochschulen. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen und Bücher zum Thema Corporate Finance.