Yang Zhifeng, 24, nennt es «verdreht». Seit ihrem College-Abschluss hangelt sie sich von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten. Anfang des Jahres eröffnete sie einen Cocktailstand, musste jedoch nach drei Monaten wieder schliessen. Rabatte von Lieferplattformen machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Als sie zu ihrem alten Fabrikjob zurückkehren wollte, musste sie feststellen: Statt 980 Dollar verdient sie jetzt nur noch 630 Dollar monatlich. «Ich bin zu der Art von Kosumenten geworden, die Unternehmen wie meines zerstören», sagt sie.
Deflation tiefer als die offiziellen Zahlen
Eine Bloomberg-Analyse zeigt: Die Deflation in China ist ausgeprägter als die offiziellen Daten vermuten lassen. Von 67 untersuchten Produkten und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs sind die Preise in den letzten zwei Jahren in 51 Fällen gesunken - deutlich stärker als der offizielle Kosumentenpreisindex angibt.
Beamte in Peking bezeichnen die deflationäre Malaise als «Involution». Einen zerstörerischen Zyklus intensiven, selbstzerstörerischen Wettbewerbs, ausgelöst durch Überkapazitäten. Der Internationale Währungsfonds geht davon aus, dass die Inflation in China 2024 im Durchschnitt bei Null liegt - die zweitniedrigste von fast 200 beobachteten Volkswirtschaften.
Teufelskreis erfasst Mittelschicht
Erica Chen, 40, verdiente früher bei einer Internetfirma in Peking über 333’000 Dollar im Jahr, ihr Mann bei einem Technologieunternehmen ein gutes Gehalt. Drei Kindermädchen hielten den Haushalt am Laufen. Dann kamen die Entlassungen - beide verloren ihre Jobs. Die Kindermädchen wurden entlassen, die Privatschule für den Sohn gestrichen. Monate vergingen ohne neue Stelle. «Die Leute sagen, dass Einkaufen jetzt billiger ist», sagt Chen. «Vielleicht stimmt das, aber es geht mich nichts mehr an. Ich muss alle unnötigen Ausgaben einschränken.»
Die Gehälter in privaten Unternehmen, wo über 80 Prozent der städtischen Beschäftigten arbeiten, stiegen im vergangenen Jahr so langsam wie nie zuvor. In der verarbeitenden Industrie und IT-Branche sind die Löhne zum ersten Mal gesunken. Eine private Erhebung zeigte: Die durchschnittlichen Gehaltsangebote sanken zwischen 2022 und 2024 um fünf Prozent.
Unternehmen unter Druck
Der Anteil der «Zombie»-Firmen - deren Gewinne die Zinszahlungen nicht decken – stieg in den letzten fünf Jahren von 19 auf 34 Prozent. Eine Bloomberg-Analyse von rund 6'000 börsenkotierten chinesischen Unternehmen zeigt eine breit angelegte Belastung. Mehr als ein Drittel der Unternehmen baut Arbeitsplätze ab.
Auch multinationale Konzerne leiden massiv: Apple verzeichnete seit Ende 2022 in den meisten Quartalen Umsatzeinbrüche in China, Starbucks meldete Rückgänge. Volkswagen und Honda Motor verkauften 2024 jeweils über 30 Prozent weniger Autos als vor der Pandemie. Kosmetikkonzerne wie L'Oréal und Shiseido, der Bekleidungsgigant Uniqlo und Luxusunternehmen wie Kering (Gucci) verzeichneten starke Umsatzrückgänge.
Die Preise brechen dramatisch ein: Polysilizium, Rohstoff für Solarzellen, fiel auf weniger als ein Fünftel seines Höchststandes von 2022. Bewehrungsstahl erreichte im Mai ein Achtjahrestief. Yang zahlt für Mahlzeiten 1,40 Dollar oder weniger - von denselben Lieferplattformen, die Getränke für ein paar Cent anbieten und ihr Geschäft zerstört haben. «Der Markt ist sehr, sehr aktiv, sehr wettbewerbsintensiv», sagte der ehemalige Nestlé- Chef Laurent Freixe vor Kurzem. «All das schafft ein Umfeld, in dem es nicht viel Preisgestaltung gibt.»
Haushalte horten Geld
Die Haushalte erhöhten ihre Ersparnisse im letzten Jahr auf etwa 110 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - den höchsten Wert aller Zeiten. Ein klares Zeichen: Die Konsumenten rechnen mit weiteren Preissenkungen und wirtschaftlicher Unsicherheit.
Guo Fang, 38, und ihr Mann verdienten früher über 281'000 Dollar jährlich und gaben viel für Designerschuhe und Luxushotels aus. Doch als sie 2020 ihre Arbeit aufgab, um ein Kind zu bekommen, brach das Sicherheitsnetz zusammen. «Wenn ich jetzt Hotels buche, überlege ich, ob wir das billigere nehmen sollen. Das ist das erste Mal seit Jahren, dass ich darüber nachdenke, ob es nicht besser ist, die Ausgaben zu kürzen.»
Gefahr der Japanisierung
Es gibt keine Anzeichen einer Umkehr. Trotz eines leichten saisonalen Aufschwungs deutet die anhaltende Schwäche darauf hin, dass die Preise 2025 zum dritten Mal in Folge deflationär sein werden. Je länger die Preise sinken, desto grösser das Risiko einer jahrelangen Wachstumsschwäche - wie in Japan, das erst jüngst seinen Kampf mit über einem Jahrzehnt Deflation hinter sich gebracht hat.
«Historisch gesehen ist eine Deflation extrem selten», sagt Zhu Tian, Wirtschaftsprofessor an der China Europe International Business School. «Wenn die Preise drei Jahre lang sinken und die Inflation nicht zurückkehrt, dann glauben die Menschen, dass sie nicht zurückkehren wird. Und dann wird China zu Japan.»
Peking könnte geld- und fiskalpolitische Massnahmen ergreifen, doch Experten fordern drastischere Schritte: Die Regierung müsse eine halbe Billion Dollar in die Förderung des Konsums stecken - über unbegrenzte Gutscheine für Haushalte. Andernfalls droht der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt eine gefährliche Abwärtsspirale.
(Bloomberg)
