Goldman Sachs und die UBS haben kürzlich ihre Kursziele für europäische Aktien für nächstes Jahr bekanntgegeben. Laut den Amerikanern dürfte sich der Leitindex Stoxx 600 bis zum dritten Quartal 2026 auf 585 Zähler erhöhen, gemäss den Schweizern liegen sogar 650 Punkte bis Ende 2026 drin. Mit Dividenden würde dies eine Gesamtrendite von rund 15 Prozent bedeuten – nach bereits 12 Prozent in diesem Jahr.

Doch nicht alle Sektoren profitieren gleichermassen. Gemäss den Analysten der beiden Grossbanken dürften die Kursavancen von zyklischen Werten wie dem Finanz- oder Industriesektor getragen werden, während Konsumgüter und Technologie eher unterdurchschnittlich abschneiden dürften. Ausschlaggebend sind die Gewinnentwicklungen, die deutlichen Bewertungsunterschiede zwischen den Sektoren sowie der Euro.

Attraktives, aber uneinheitliches Gewinnwachstum

Das vorwärtsgerichtete Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des Stoxx 600 liegt bei 14,2 und damit knapp über dem zehnjährigen Durchschnitt. Die UBS erwartet für 2026 keinen nennenswerten Bewertungsanstieg, während Goldman Sachs mit einem leichten Anstieg rechnet. Europa sei im Vergleich zu vielen anderen Märkten weiterhin attraktiv bewertet.

Besonders auffällig im Index sind der Finanz- und Technologiesektor. Während Finanztitel (KGV: 9,8) günstig im Vergleich zum Benchmark und zur eigenen Historie (12,2 seit 2001) bewertet sind, liegen jene der europäischen Tech-Unternehmen (KGV: 30) auf einem erhöhten Niveau.

Zwar wird in beiden Sektoren für 2026 ein überdurchschnittliches Gewinnwachstum prognostiziert: 11 Prozent im Finanzsektor und 12,8 Prozent im Technologiesektor. Doch die Kombination aus Gewinnwachstum und Bewertungsniveau sei für das weitere Kurspotenzial entscheidend, so die beiden Grossbanken. 

Besonders für Value-Investoren dürfte deshalb der europäische Finanzsektor auf Interesse stossen: Denn die Bewertungen sind niedrig, die Renditen hoch. Zu den am günstigsten bewerteten Finanzgesellschaften in Europa gehören die beiden französischen Grossbanken BNP Paribas und Crédit Agricole, sowie der englisch-südafrikanische Finanzkonzern Investec.

Trotz beachtlicher Kursgewinne in diesem Jahr - bei BNP zeitweise über 40 Prozent - bleiben die Bewertungen der drei Konzerne gemessen am KGV, Preis-Buchwert und Dividendenrendite attraktiv. LSEG vergibt in einer Gesamtbeurteilung 99 von 100 Punkten für BNP und Investec, Crédit Agricole erhält 98 Punkte. 

Zum Vergleich: Wachstumstitel wie Swissquote oder die britische Neo-Bank Wise erzielen in diesem Raster nur 4 respektive 3 Punkte. Die Bewertung aufgrund des hohen Wachstums und der niedrigen Ausschüttungsrendite schlägt sich negativ auf die Punktzahl nieder und weist so auf die geringen Merkmale einer Value-Anlage hin.

Aussergewöhnlich günstig

BNP Paribas und Crédit Agricole handeln bei KGVs von 6,6 und 7,1, Investec wiederum bei 6,2. Günstigere Aktien auf dem europäischen Parkett gibt es kaum. Automobilaktien und deren Zulieferer sind eine Ausnahme - VW kommt beispielsweise auf ein KGV von 4 -, doch diese Unternehmen befinden sich derzeit in einer fundamental anderen Ausgangslage. Das Risikoprofil ist nicht vergleichbar.

Mit einer Dividendenrendite von ungefähr 7,5 Prozent tauchen die drei Konzerne zudem regelmässig auf der Liste der europäischen Unternehmen mit den höchsten Ausschüttungen auf. Die Dividendenrendite des Stoxx 600 beläuft sich auf etwa 2,6 Prozent.

Die drei Unternehmen sind dabei relativ verlässliche Dividendenzahler. In den vergangenen 30 Jahren mussten sie je zwei Mal die Dividenden kürzen, aber nie streichen. Einmal rund um die Finanz- und Eurokrise vor 15 Jahren, das zweite Mal nach der Covid-Pandemie.

Hohe Renditen auf Kosten der Sicherheit?

Die niedrige Bewertung dürfte hingegen mit der Eigenkapitalrendite zusammenhängen: Ohne Goodwill oder immaterielle Vermögenswerte beträgt sie bei BNP 10,2 Prozent, bei Crédit Agricole 12,3 Prozent und bei Investec 11,6 Prozent. Damit sind die drei Finanzinstitute deutlich weniger rentabel als die Wachstumswerte Swissquote (30 Prozent) und Wise (21 Prozent). 

Der Markt belohnt im derzeitigen Umfeld geringere Eigenkapitalien und höhere Renditen mit Bewertungsaufschlägen - nicht umsonst lobbyiert auch die UBS für lockere Vorschriften. 

Zwar wird ein höheres Eigenkapital vielfach als Sicherheit interpretiert, da Finanzkrisen gezeigt haben, dass ein widriges Marktumfeld das Eigenkapitalpolster von Finanzgesellschaften schneller auflösen kann, als einem lieb ist. Doch in diesem Fall ist die tiefere Rentabilität nicht direkt mit dem höheren Eigenkapital zu erklären.

Denn der CET1-Kapitalquoten-Vergleich (die harte Kernkapitalquote) zwischen den fünf Unternehmen fällt zugunsten von Swissquote und Wise aus. BNP erreicht eine CET1-Quote von 12,5 Prozent, Crédit Agricole eine von 11,9 Prozent und Investec 12,2 Prozent. Swissquote (23 Prozent) oder Wise (19,8 Prozent) haben deutlich bessere Werte. Sie sind somit nicht nur profitabler, sondern auch risikoärmer.

Dennoch: Das Gewinnwachstum für 2026 von BNP und Investec dürfte weitgehend dem Branchendurchschnitt entsprechen und damit über dem Marktschnitt liegen. Bei Crédit Agricole wird es auf 3,6 Prozent geschätzt. Laut Konsens sind bei BNP und Investec Gewinnwachstum und Bewertungsanstieg jeweils zu gleichen Teilen für die Kursavancen verantwortlich, während bei Crédit Agricole rund drei Viertel des Kurspotenzials auf die Bewertungsexpansion entfallen.

Das Aufwärtspotenzial sehen Experten bei BNP Paribas bei 20 Prozent, bei Crédit Agricole bei 12,4 Prozent und bei Investec bei 22,2 Prozent. Hinzu kommt die Dividendenrendite von jeweils 7,5 Prozent.

Geringe Fremdwährungsrisiken

Sowohl für Goldman Sachs als auch für die UBS spielt der Euro einen wichtigen Einflussfaktor für die Kursentwicklung europäischer Aktien. Eine Aufwertung könnte das Gewinnwachstum belasten. 

Goldman Sachs erwartet eine Euro-Stärke bis Ende des dritten Quartals 2026 auf 1,25 Dollar  - ein Plus von 7 Prozent. Die UBS geht von einem nahezu unveränderten Kurs aus.

Finanztitel sind von Wechselkursschwankungen aber nur begrenzt betroffen, da sie mit Absicherungen und währungsausgeglichenen Bilanzpositionen die Risiken zu eliminieren versuchen. Die drei Finanzinstitute weisen deshalb den genauen Fremdwährungseinfluss nicht aus. BNP verweist lediglich auf Anpassungen in Rechnungslegung inklusive Deviseneinflüsse - diese beiden Faktoren haben das Ergebnis im letzten Quartal um weniger als 1,5  Prozent des Umsatzes positiv beeinflusst. 

Für renditefokussierte Anleger, die sich in Zeiten erhöhter Handels- und damit verbundener Währungsrisiken nicht devisenabhängigen Geschäftsmodellen aussetzen möchten, bleiben die drei Finanztitel besonders attraktiv. Nicht zuletzt auch, weil sich der Euro gegenüber dem Franken als äusserst stabil erwiesen hat - trotz politischer Unsicherheiten in Frankreich.

Luca_Niederkofler
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