cash.ch: Der Swiss Market Index (SMI) hat seit Jahresbeginn trotz der steigenden Zinsen, der konjunkturellen Abschwächung und der Bankenkrise 7 Prozent gewonnen. Wie ordnen Sie den Zustand des Schweizer Aktienmarktes Ende April ein? 

Fabienne Hockenjos-Erni: Die globalen Aktienmärkte hatten tatsächlich einen fulminanten Jahresstart. Die Schweizer Börse blieb zu Jahresbeginn gegenüber anderen Börsenplätzen jedoch sogar eher zurück, startete Mitte März dann aber eine Aufholjagd. Wir setzen stark auf unseren Heimmarkt und haben ein grosses Übergewicht in Schweizer Aktien. Gerade im derzeit anspruchsvollen Umfeld mit vielen latenten Risikoherden, erachten wir das Risiko-Rendite-Verhältnis in der Schweiz als äusserst interessant. Der Markt besticht mit einer interessanten Mischung von defensiven Schwergewichten und qualitativ hochstehenden Nischenanbietern. 

Die Bankenkrise schwelt trotz der Credit-Suisse-Übernahme durch die UBS insbesondere in den USA weiter, wie die neuesten Turbulenzen rund um die First Republic Bank zeigen. Inwiefern wird uns die Bankenkrise dieses Jahr noch beschäftigen? 

Die Vertrauenskrise im Bankensektor dürfte uns in mehreren Hinsichten beschäftigen. Einerseits werden die Geldströme tangiert bleiben. In der Schweiz beobachten wir weiterhin den Abfluss von Kundengeldern der Credit Suisse, in den USA bleibt das Vertrauen in Regionalbanken angeschlagen und lässt Kunden weiter Geld abziehen. Damit ist die Vertrauenskrise noch nicht gebannt. Andererseits beobachten wir direkte Auswirkungen auf die Finanzierungskonditionen. Diese sind im März deutlich angestiegen und dürften zusätzlich zur restriktiver werdenden Geldpolitik auf dem Konjunkturausblick lasten. 

Inwiefern wird in der Schweiz die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS ein Thema bleiben?

Aus Schweizer Sicht wird uns natürlich der Zusammenschluss der UBS und der CS weiter beschäftigen und noch viele rechtliche Facetten zum Vorschein bringen. Ich rechne nicht damit, dass seitens Behörden Steine in den Weg gelegt werden, aber allen voran die AT1-Thematik respektive das Ausrufen von Notrecht dürfte die Anwälte noch lange beschäftigen. 

Inflation, Konjunktur und Zinsen. Welche Thematik birgt das in den nächsten Monaten grösste Risiko für die Märkte?

Das ist tatsächlich die zentrale Frage, die sich wohl jeder Anleger gerade stellt. Schlussendlich ist es das Zusammenspiel dieser Faktoren. Wir denken, dass die Inflation hartnäckig bleibt und die Notenbanken noch stärker unter Druck setzen wird. In den USA ist die Kerninflation mittlerweile höher als die Gesamtinflation und auch in Europa ist die Teuerung nicht mehr nur abhängig von den Energiepreisen, sondern breit abgestützt. 

Was ist die Konsequenz?

Zweitrundeneffekte werden sichtbar und dominieren die weitere Inflationsentwicklung. Infolgedessen rechnen wir damit, dass die Geldpolitik weiterhin die Inflationsbekämpfung im Fokus haben wird. Zu gross ist die Angst, zu früh die Zügel wieder zu lockern und angesichts der weiterhin robusten Konjunktur - allen voran der soliden Konsumzahlen - spricht nichts dagegen, die Zinsen länger hoch zu halten, als das derzeit vom Markt antizipiert wird. Die Anpassung der Markterwartung auf den Zinsverlauf als Folge der hartnäckigen Inflation birgt damit eines der grössten Risiken. 

Was dürfen Anlegerinnen und Anleger vom restlichen Börsenjahr erwarten?

Sicherlich ein volatiles Umfeld. Die Marktteilnehmer erwarten derzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Rezession, dies ist jedoch in den Umsatz- und Gewinnschätzungen noch nicht abgebildet. Die Kombination von länger höher als erwarteten Zinsen und einem abflachenden Konjunkturmomentum dürfte kurz- oder mittelfristig zu einer Korrektur an den Aktienmärkten führen. Da ich nicht von einem grundsätzlich schlechten Börsenjahr ausgehe, wäre eine Kurskorrektur dann allenfalls ein spannender Moment, Aktienpositionen aufzubauen. 

Inwiefern bietet die laufende Berichtssaison zum ersten Quartal Hoffnung? 

Viele Unternehmen haben solide bis gute Zahlen für das erste Quartal abgeliefert und ihre bestehende Guidance belassen. Von einer makroökonomischen Abkühlung scheinen die Unternehmen bisher wenig zu spüren. Im Bereich Energie liegt der Fokus auf der Kostenseite, wo es zwischen den Firmen grosse Unterschiede gibt. Die höheren Inputkosten können in der Regel aber noch gut über höhere Endverkaufspreise weitergegeben werden, ohne dass die abgesetzten Volumina markant einbrechen. Die Frage ist, ob dies auch für die restlichen Quartale im Jahr 2023 gilt. 

Sie sind skeptisch…

Ich rechne damit, dass die Gewinnschätzungen für die nächsten Quartale noch zu optimistisch sind. Die Inflation bleibt hartnäckig und die konjunkturelle Abkühlung ist in den Schätzungen noch zu wenig abgebildet. 

Was wird an den Märkten passieren, wenn die US-Notenbank bei den Leitzinsen wieder Kürzungen vornimmt? 

Die Frage ist eher, was passiert, wenn die US-Notenbank die Leitzinsen nicht wie erwartet noch in diesem Jahr senkt - was unserer Basisszenario ist. Über die nächsten 12 Monate geht der Markt von einer Zinssenkung von annähernd einem Prozentpunkt aus, was die Bewertungen stützt und ein wichtiger Grund für das bisher gute Aktienjahr darstellt. Muss die US-Notenbank an den hohen Zinsen länger als erwartet festhalten, dürfte dies zu einer negativen Kursreaktion führen.

Wie sollen Anlegerinnen und Anleger mit diesem Ausblick bei ihren Investments vorgehen?

Wir empfehlen unseren Anlegern vor allem, die Anlageziele und den Anlagehorizont im Blick zu behalten. Gerade in einem Umfeld mit hoher Unsicherheit ist es wichtig, eine an die individuellen Bedürfnisse angepasste Anlagestrategie zu definieren und daran festzuhalten. Disziplin ist in einem volatilen Umfeld oft ein wichtiges Erfolgskriterium. Ich empfehle daher nicht, mit Blick auf die erhöhten Risiken Positionen zu verkaufen. Ein gut diversifiziertes Portfolio kann über kurzfristige Unsicherheit hinwegsehen und langfristig attraktive Opportunitäten nutzen. Und gerade mit Blick auf die hohe Inflation empfiehlt es sich, investiert zu bleiben, um der sicheren Vermögensminderung auf dem Sparkonto entgegen zu wirken. 

Auf was sollten Anleger setzen? Substanzaktien (Value), Zykliker oder Wachstumswerte? 

Zu Beginn des Jahres haben aufgrund der China-Öffnung die ‘gebeutelten’ Zykliker stark profitieren können. Einige dieser Aktien notieren aber nun auf Höchstständen. Wachstumsaktien haben im letzten Jahr wegen höherer Leitzinsen massiv an Boden eingebüsst, konnten dies nun teilweise im ersten Quartal wieder etwas kompensieren.

Wachstumswerte sind wieder teuer?

Noch immer bieten einige dieser Firmen für langfristige Investoren gute Einstiegschancen. Ich denke hier in der Schweiz besonders an erfolgreiche Wachstums-Stories wie Lonza, Straumann, Tecan, VAT oder Comet. Für die kommenden unsicheren Quartale liegt der Fokus sicherlich auf guter Qualität. Firmen mit guten Bilanzen und wenig Finanzierungsproblemen gilt es zu bevorzugen. Auch Wachstumsaktien mit guter Qualität können sich langfristig nach wie vor lohnen. Eine Beimischung von Substanzaktien mit oft solider Dividende in einem Umfeld hoher Bewertungen und Unsicherheit ist ebenfalls zu empfehlen.

Was sind Ihre Schweizer Gewinneraktien für 2023?

Im Industriesektor setzen wir auf ABB, Holcim und VAT. ABB ist ein Profiteur vom Trend in Richtung erneuerbare Energien, Digitalisierung sowie Automatisierung. Wie die vorgelegten Resultate gezeigt haben, ist das Unternehmen gut unterwegs und profitiert weiterhin von globalen Megatrends. Holcim ist in der Transformation in Richtung eines weniger zement- und energieintensiven Baustoffherstellers und Profiteur von globalen Infrastrukturprogrammen. Auch Holcim hat letzte Woche hervorragende Zahlen vorgelegt und blickt zuversichtlich in die Zukunft. VAT gilt als global führender Hersteller von Vakuumlösungen - insbesondere für die Halbleiterindustrie.

Und ausserhalb der Industrie?

Im Gesundheitssektor würden wir Lonza und Tecan hervorheben: Lonza ist ein global führender Vertragshersteller (CDMO) mit starkem Wachstum in den kommenden Jahren und Tecan ist ein führender Nischenhersteller im Bereich der Laborautomation, vor allem im Liquid-Handling. Im Finanzsektor präferieren wir Alternativen zu den Grossbanken wie Swiss Life oder Partners Group

Welche Schweizer Titel sehen Sie als grosse Verlierer?

Vorsichtig sind wir bei u-blox, ams-OSRAM, Sonova und Adecco. u-blox aufgrund der hohen Volatilität der operativen Entwicklung. Der Nachweis zu nachhaltiger Stabilisierung steht aus und es bleiben hohe aktivierte F&E-Ausgaben in der Bilanz. Für ams-OSRAM wird 2023 ein weiteres Übergangsjahr und die Hoffnung auf das MicroLED-Geschäft ist aktuell noch zu unsicher, um die Aktie nachhaltig attraktiv zu machen. Zudem ist die Bilanz eher schwach. Bei Sonova bestehen weiterhin Risiken im Zusammenhang mit OTC-Hörgeräten und damit verbundenem Preisdruck. Zu guter Letzt noch Adecco: Die wirtschaftliche Verlangsamung ist schlecht für Personalvermittler, zudem führt die Akka-Integration zu weiteren Sonderkosten.

Roche oder Novartis: Wo sehen Sie mehr Potenzial? 

Kurzfristig bevorzugen wir Novartis: Novartis hat jüngst mit Neuigkeiten zu zwei Krebsmedikamenten - Kisqali und Pluvicto - positiv überrascht und der Markt scheint das diesbezügliche Potenzial noch zu unterschätzen. Die Abspaltung von Sandoz macht Novartis zu einem noch fokussierteren Unternehmen, die Separierung verschlingt aktuell aber auch Ressourcen. Der Markt goutiert aber, dass Novartis seine F&E-Effizienz wiedergefunden hat. Es stehen auch in den nächsten Jahren noch einige neue Kandidaten bereit. Bei Roche dürfte 2023 aufgrund der wegfallenden COVID-Umsätze und eines neu eingesetzten Management-Teams ein Übergangsjahr werden. 2024 sollte aber auch bei Roche trotz einigen gescheiterten Studien wieder solides Wachstum möglich sein. Deren früh/mittelphasige Pipeline scheint noch immer sehr stark zu sein. Beide Firmen müssen jedoch die gegen Ende der Dekade drohenden Patentverfälle abfedern.

Wie schätzen Sie die Situation bei der UBS ein, nachdem diese die CS übernimmt? 

Die Übernahme ist hochkomplex und bringt verschiedene Risiken mit, die aktuell noch schwer abzuschätzen sind. Sicher ist, dass viel Management Attention auf die Integration nötig wird. Mittelfristig ergeben sich durch den Zusammenschluss aber auch grosse Chancen. Wir waren seit langem negativ auf die Aktie von CS und hatten in unseren aktiven Mandaten keine Bestände. Ich traue dem UBS-Management zu, langfristig Mehrwert aus der Transaktion zu schaffen und den Wert der CS auch in der Bewertung visibel zu machen. Wir bleiben vorderhand eher auf der Seitenlinie, da die Unsicherheiten mit Blick auf die kommenden Monate gross sind und das Makroumfeld für eine volatile operative Performance spricht. 

Welches halten Sie für die interessantesten Schweizer Dividendenaktien? 

In der Schweiz sind hier sicherlich die Versicherungsgesellschaften Zurich, Swiss Life und Swiss Re zu nennen. Ebenfalls eine interessante Dividendenrendite bietet der Private Equity Konzern Partners Group oder der Baustoffhersteller Holcim. Mit etwas tieferen, aber langfristig sehr stabilen Dividenden sind hier auch die beiden grossen Pharmas Novartis oder Roche zu nennen. Novartis kauft dank guter Bilanz zudem viele Aktien zurück.

Was sind die drei grössten Fehler, die Anlegerinnen und Anleger an der Börse begehen?

Erstens Emotionale Entscheide: Behavioural Finance ist eine eigene Wissenschaft und der Mensch neigt dazu aufgrund von Emotionen falsche Entscheide zu fällen. Zweitens Kurzfristigkeit: Der Anlagehorizont wird oft in den Hintergrund geschoben. Er ist jedoch zentral. Die meisten Investoren fokussieren auf kurzfristige Trades im Depot und vergessen, dass ihr grosses Anlagevermögen in der Vorsorge liegt. Vorsorgegelder wie beispielsweise in der Säule 3a sollten unbedingt angelegt werden, da man dort den längsten Anlagehorizont hat. Drittens Disziplin: Das Abweichen von einer gut aufgesetzten Strategie kann viel Geld kosten und Disziplin teils signifikante Verluste vermeiden.

Welche Anlagestrategie halten Sie für besonders überzeugend?

Die Anlagestrategie hängt von der individuellen Risikofähigkeit und Risikoaffinität ab. Es gibt nicht DIE richtige Strategie. Was wir unseren Kunden derzeit raten, wenn sie nicht sicher sind, ob sie heute investieren sollten oder angesichts der erhöhten Risiken eher warten, ist ‘gestaffeltes Investieren’. Es reduziert das Risiko von falschem Timing und überwindet damit eine wichtige emotionale Hürde. Zudem kann man so langsam aber stetig die meist hohen Bargeldbestände reduzieren, die derzeit der hohen Inflation zum Opfer fallen. Wie investiert wird, hängt dann von der Risikoprofilierung ab. 

Fabienne Hockenjos-Erni beantwortete die Fragen schriftlich.

Fabienne Hockenjos-Erni ist seit Juni 2020 Anlagechefin bei der Basellandschaftlichen Kantonalbank (BLKB). Davor war sie im Unternehmen unter anderem als Head Investment Research tätig. Zu ihren früheren Stationen zählt die Notenstein La Roche Privatbank sowie der Versicherungskonzern Baloise

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