Europa, Nordamerika oder Asien - welche der drei Börsenregionen dürfte sich im zweiten Halbjahr am stärksten entwickeln?

Philipp Grüebler: Ich setze im zweiten Halbjahr auf Europa, weil erstens die Bewertungen hier tiefer sind und zweitens die Wiedereröffnung zu steigenden Unternehmensgewinnen führen werden. Die Aktien sind in den USA sehr hoch bewertet und bieten weniger Potenzial. China dürfte aufgrund seiner restriktiven Fiskalpolitik die Entwicklung in Asien im zweiten Halbjahr bremsen, weshalb in den nächsten 6 Monaten keine grossen Kursgewinne in Asien zu erwarten sind.

Die Börsen weltweit sind sehr stolz bewertet. Ist es deshalb ratsam, von einer passiven Anlagestrategie via Exchange Traded Funds, kurz ETF, verstärkt in eine aktive Strategie mit Einzelaktien zu wechseln? Was für ein Vorgehen schlagen Sie vor?

Ein ETF auf den MSCI World, der von den USA dominiert wird, ist tatsächlich stolz bewertet. Der Anleger kann aber durchaus auf ETFs in günstigeren Märkten setzen, wie zum Beispiel von europäischen Börsen oder den Sektoren Industrie und Finanz. Natürlich kann er auch in attraktive Einzelaktien investieren, allerdings sollte er genügend Analyse betreiben und genügend diversifizieren.

Wie sollen junge Schweizerinnen und Schweizer zwischen 18 und 40 Jahren für das Alter sparen - beziehungsweise: Wie viel Gewicht sollten sie dabei auf Aktienanlagen legen?

Da Aktien langfristig die höchsten Renditen abwerfen, sollten junge Anlegerinnen und Anleger mit einem sehr langen Anlagehorizont soviel Aktien wie möglich halten (100 Prozent). Von Leverage (fremdfinanziertes Anlegen, anm. d. Red.) würde ich hingegen abraten, weil in einem Crash auf der Talsohle wegen Margin Call alles liquidiert werden muss und der Rebound dann verpasst wird. Zu viel Market-Timing würde ich ebenfalls nicht empfehlen, da nicht nur der Verkaufszeitpunkt sondern auch der Wiedereintritt perfekt erwischt werden muss, was meist nicht gelingt.

Nennen Sie uns bitte drei Themen, auf die man an der Börse setzen könnte - und beschreiben Sie, wie Sie dabei vorgehen würden.

Beim Value-Ansatz setzt man auf tief bewertete Titel. Zurzeit  wären dies europäische Industrie- und Finanzwerte. Der Growth-Ansatz bevorzugt Technologietitel vor allem in den USA. Ein anderes Thema ist die Überalterung der Gesellschaft, welches Chancen für den Gesundheitssektor bietet. Man kann alle diese Themen mittels ETFs, aktiven Fonds oder Einzeltitel umsetzen: Europäische Titel als Value-Play, Nasdaq-Titel als Growth-Play und Pharma- und US-Biotech-Titel für den demographischen Trend.

Kommen wir zum allgemeinen Börsengeschehen: Wie stark beschäftigt die Corona-Krise die Finanzmärkte derzeit?

Global steigende Fallzahlen bereiten den Finanzmärkten zurzeit Sorgen, doch dank der Impfung sind die Folgen bisher gering, inform von wenigen Hospitalisationen und Todesfällen. Der wirtschaftliche Aufschwung ist damit vorerst nicht in Gefahr. Aber auch ein zu starker Aufschwung könnte Probleme mit sich bringen: Eine Überhitzung würde zu Inflation und höheren Zinsen führen. Zurzeit verzeichnet die USA einen starken Preisanstieg. Es wird sich zeigen, ob dieser vorübergehend ist.

Wie wird sich die Schweizer Börse kurzfristig entwickeln?

Trotz den jüngsten Korrekturen bin ich grundsätzlich positiv gestimmt. In den kommenden Sommerwochen wird das Handelsvolumen jedoch tief sein. Die täglichen Schwankungen können sehr gering sein, es ist aber auch möglich, dass kleine Transaktionsvolumen zu grosser Volatilität führen.

Wo steht der SMI in zwölf Monaten?

Wir dürften in einem Jahr 12'700 Punkte erreichen, obwohl heute die Kurse stolz bewertet sind. Treiber werden steigende Unternehmensgewinne sein, welche durch die Öffnung der Wirtschaft, hohe Ersparnisse und aufgestaute Nachfrage ermöglicht werden. Steigende Inflation und Zinsen oder erneute Lockdowns könnten den Aufschwung gefährden.

Philipp Grüebler ist Portfolio Manager und Geschäftsführer der Grüebler Vermögensverwaltung. Das Interview wurde schriftlich geführt. 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf handelszeitung.ch unter dem Titel «Ich setze auf Europa. US-Aktien sind sehr hoch bewertet».