cash.ch: Frau DiCenso, was sind Ihrer Meinung nach die grössten Marktrisiken im Jahr 2024? 

Andrea DiCenso: Es besteht die Möglichkeit, dass der disinflationäre Trend zum Stillstand kommt. Es ist daher problematisch, dass der Markt immer noch so viele Zinssenkungen für die USA einpreist. 

Wie viele Leitzinssenkungen preisen die Märkte ein?

Betrachtet man die globalen Investment-Grade- und Hochzinsmärkte, so preisen die Märkte derzeit drei Zinssenkungen ein. Wenn die Disinflationstendenzen zum Stillstand kommen und weitere Zinssenkungen ausgepreist werden müssen, könnten die qualitativ schlechteren Segmente der Hochzinsmärkte am stärksten betroffen sein. Diese preisen derzeit eine sehr geringe Rezessionswahrscheinlichkeit ein. Auch bei hochwertigen Investment-Grade-Anleihen, die empfindlicher auf Ratings reagieren, würde es ebenfalls zu einer Ausweitung der Spreads kommen, um diese Risikoprämie widerzuspiegeln. 

Inwiefern könnte auch die Politik in diesem Superwahljahr zu einer Ausweitung der Spreads führen?

Ein weiterer Faktor ist die US-Politik, die sehr bald in den Vordergrund treten wird. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Situation in den Sommermonaten wieder aufheizt. Und das könnte geopolitische Debatten auslösen, beispielsweise über das Verhältnis zwischen den USA und China. 

Aber es geht doch auch um hauseigene Probleme...

Da sich das US-Defizit im letzten Jahr ungefähr verdoppelt hat, gibt es grosse Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen auf die Zinszahlungen, sollte sich das höhere Zinsumfeld 2024 durchsetzen. Es ist ein Teufelskreis entstanden, da die höheren Zinskosten das Defizit nur noch vergrössern, so dass mehr Schulden verkauft werden müssen. Das bedeutet, dass die kommenden Monate wahrscheinlich noch grössere Defizite mit sich bringen werden, um das US-Wachstum zu stützen. Und dieser Zyklus führt zu einem Aufwärtsdruck auf die Laufzeitprämie.

Wie kann man durch dieses mit geld- und geopolitischen Risiken behaftete Fahrwasser navigieren? 

Die Volatilität bei Wahlen manifestiert sich schon sehr früh am Devisenmarkt und dem Zinsmarkt. Zusätzliche Laufzeitprämien, die an den Märkten für den unbekannten Wahlausgang (Handels-, Fiskal- oder Steuerpolitik) eingepreist werden, können zu grösseren Handelsspannen auf den Zins- und Währungsmärkten führen. Man sollte analysieren, wie viel Unsicherheit in den verschiedenen Anlageklassen eingepreist wird. Dies bietet die Möglichkeit, die Portfoliobestände taktisch anzupassen, wenn sich die Spreads neu eingepreist haben. Dies, um eine potenzielle Spread-Kompression zu monetarisieren, wenn die Volatilität wieder sinkt. 

Gleichzeitig ist die US-Renditekurve immer noch invertiert. Wo bleibt die Rezession? 

Könnte es sein, dass die Zentralbanken dieses Mal alles perfekt gemacht haben? Ich vermute nicht. Viele Anleger, mich eingeschlossen, sahen in der inversen Renditekurve einen Warnhinweis auf eine bevorstehende Rezession. Diese Rezession trat im Jahr 2023 trotz vieler Vorhersagen nicht ein. Dabei prognostiziert die Faustregel zwölf bis 18 Monate nach der Umkehrung der Kurve eine Rezession. Warum ist dies nicht der Fall gewesen? Die meisten verweisen auf den verzögerten Effekt von steigenden Staatsausgaben, die das Wachstum auf staatlicher und Konsumentenebene unterstützen. Hinzu kommt das sogenannte «labor hoarding», das während und nach der Pandemie stattfand. Je länger die Menschen in Bezug auf ihre Beschäftigungsaussichten zuversichtlich sind, desto mehr fühlen sie sich zu Ausgaben ermutigt.

Die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Punktlandung der Zentralbanken ist aber gering...

Nicht nur die Wahrscheinlichkeit ist zu gering. Ich glaube, dass die Märkte sogar noch weiter gegangen sind. Sie haben damit begonnen, eine Wiederbelebung des Wachstums einzupreisen. 

Ein riskantes Spiel?

US-Staatsanleihen preisen eine implizite Rezessionswahrscheinlichkeit von etwa 60 Prozent ein. Das deutet darauf hin, dass ein gewisses Risiko am Horizont lauert.

Trotz starkem Dollar und hoher Renditen von US-Staatsanleihen ist der Goldpreis gestiegen. Warum?

Für mich ist dies ein Hinweis darauf, dass sich die Anleger wieder Sorgen um die Inflation machen. Da die letzten Inflationsdaten in den USA über dem Konsens liegen und die US-Arbeitsmarktdaten weiterhin gut sind, könnte sich die Fed fragen, ob sie im Juni handeln muss. Die Inflationsdaten für April werden für die Geldpolitik der Fed und die Bestätigung der jüngsten Preisentwicklung auf dem Goldmarkt von grosser Bedeutung sein.

Sie sind eine erfahrene Strategin und Portfoliomanagerin. Was sind die besten Tipps, die Sie den Anlegern mit auf den Weg geben können?

Aktives Management wird in den nächsten 24 Monaten eine immer wichtigere Rolle für die Anleger spielen. Denn es besteht keine steigende Flut, die alle Boote mitreisst. Da wir viele und bedeutende Wahlen vor uns haben, ist regionale Diversifizierung eine Möglichkeit, stabilere Renditen zu erzielen. Und der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist eine starke Absicherung für das Portfolio. Denn die Ausfälle bei den Anleihen sind derzeit extrem niedrig. Wenn diese steigen, könnte dies bei einzelnen Anlegern zu einem gewissen Portfolioabbau führen. 

Wann wird das passieren? 

Die Bedingungen dafür wären meiner Meinung nach vorhanden, wenn die Zentralbanken ihren Zinssenkungszyklus wegen einer hartnäckigeren Inflation pausieren müssen. 

Dies würde die Volatilität deutlich erhöhen…

Und das könnte Fragen aufwerfen. In den Jahren 2025 und 2026 droht vielen Märkten eine sogenannte Finanzierungsmauer. Ausdruck grösserer Besorgnis diesbezüglich wären grössere Spreads auf dem Hochzinsmarkt und mit grösseren Zugeständnissen, die die Anleger für die zusätzliche Ungewissheit über die künftige Zinsentwicklung entschädigen. In diesen Jahren werden also viele Emittenten auf den Markt zurückkehren.

Sind tiefer Zinsen daher eine Notwendigkeit?

Im Idealfall werden wir uns in einem Umfeld niedrigerer Zinsen befinden, so dass diese Emittenten wieder auf den Markt kommen und Emissionen tätigen können. Sollte dies nicht der Fall sein, könnte es zu einer Ausweitung der Spreads kommen. Eine Folge könnte ein Anstieg der Zahlungsausfälle sein. Zwar liegen diese derzeit unter den prognostizierten Erwartungen. Doch wenn wir uns in einem Umfeld anhaltend höherer langfristiger Zinssätze wiederfinden, könnten einige Emittenten angesichts potenziell höherer Kapitalkosten in Finanzierungsschwierigkeiten geraten.

Andrea DiCenso ist Vizepräsidentin bei Loomis, Sayles & Company, einer Investmentmanagementgesellschaft und Tochter des Vermögensverwalters Natixis. Sie ist dort auch Co-Portfoliomanagerin für gemischte Total-Return-Strategien, Schwellenländeranleihen und weltweite Kredite. Darüber hinaus ist sie Senior-Strategin für die Alpha-Strategien-Gruppe und beaufsichtigt alle Devisen- und Rohstoffaktivitäten für die Multi-Asset-Produktreihe des Unternehmens und ist in erster Linie für die Vermögensallokation, die Ideenfindung, die Portfoliokonstruktion und das Risikomanagement verantwortlich. Seit 2009 ist Andrea als Strategin in der Alpha-Strategiegruppe tätig und setzt Schwellenländer- und Rohstoffthemen in den Long-only- und Multi-Asset-Produkten des Unternehmens um. Sie kam 2006 als Junior-Analystin zu Loomis Sayles, wo sie den Investment-Grade- und High-Yield-Rohstoffsektor abdeckte. Sie begann ihre Karriere in der Investmentbranche im Jahr 2003 bei Fidelity Investments als Finanzanalystin. DiCenso hat einen Bachelor of Science in Finanzen vom Bentley College und einen MBA von der Northeastern University.

Das Interview wurde anlässlich eines von Natixis in Paris durchgeführten Medienanlasses geführt. 

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