In fast jeder Rede hält Kanzler Friedrich Merz ein flammendes Plädoyer für Entbürokratisierung. Vorschriften und Regeln für Unternehmen müssten in Deutschland und Europa deutlich abgebaut werden, damit die Wirtschaft wieder Luft zum Atmen bekomme und wettbewerbsfähig werde. Weitgehend übersehen wurde, dass der CDU-Vorsitzende dabei auch ein heisses Eisen anfasst: Er dringt auf eine Deregulierung des Bankensektors.

Dies wäre eine Trendwende. Seit der Finanzkrise 2008/2009 stand in Europa vor allem die verstärkte Regulierung im Fokus, strengere Vorgaben, mit denen ein erneuter Zusammenbruch von Banken verhindert werden sollte. «Die Risikopuffer sind grösser geworden, die Rücklagen sind stärker geworden. Das ist alles richtig», betonte der Kanzler bei einem kaum beachteten Auftritt beim Markenverband. Aber dann fügte er hinzu: «Die Banken sind zu stark reguliert.» Dies habe fatale Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft.

Zersplitterter Bankenmarkt

Was wie eine der üblichen Seitenbemerkungen des Kanzlers wirkt, ist bei Merz nach Aussagen von Vertrauten Ausdruck tiefer Überzeugung. Der 69-Jährige hat unter anderem als Aufsichtsratschef der Fondsgesellschaft Blackrock Deutschland, Verwaltungsratsmitglied der Düsseldorfer Privatbank HSBC Trinkaus oder als Aufsichtsratsmitglied bei der Deutschen Börse Erfahrungen in der Finanzwelt gesammelt. Er hält Finanzmärkte für das Wirtschaftswachstum für mindestens ebenso wichtig wie andere Faktoren.

Ausserdem ist Merz ein Kenner der USA, als ehemaliger Vorsitzender der Atlantik-Brücke und durch seine nach eigenen Angaben mehr als 150 Besuche in dem Land. Und dort wird die Finanzbranche traditionell weniger reguliert. So mussten die US-Institute nie die strengen Eigenkapitalvorschriften nach dem Basel III-Regime umsetzen - obwohl die Finanzkrise 2008 durch den Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes und die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers ausgelöst wurde. US-Präsident Donald Trump will den Sektor sogar weiter deregulieren. Es gibt die Befürchtung, dass dies wegen der strengeren Regeln in Europa die Wettbewerbsfähigkeit europäischer und deutscher Banken weiter verschlechtern könnte.

In der EU ist zudem die seit Jahren diskutierte europäische Kapitalmarktunion - ein einheitlicher, integrierter Binnenmarkt für Geldflüsse - längst keine Realität. Immer wieder hat Merz in den vergangenen Monaten kritisiert, dass das private Kapital in Deutschland und der EU in US-Fonds gesammelt wird, die sich dann wiederum an vielversprechenden europäischen Unternehmen beteiligen. Der Grund: Der EU-Finanzmarkt ist zu zersplittert, die Börsen zu klein. Deshalb lassen sich deutsche Firmen wie Linde, Birkenstock oder BioNTech an der Wall Street statt an der Frankfurter Börse listen. Anders als in den USA, wo Pensionsfonds in Aktien, Anleihen und Immobilienfonds investieren dürfen, können in Deutschland die riesigen Summen zur Altersvorsorge nicht breit für die Wirtschaft aktiviert werden. Es gibt rechtliche Einschränkungen und eine Risikobegrenzung, was die Ausfallsicherheit erhöht, aber auch die Renditen der Sparer schmälert.

Zustimmung aus der Bankenbranche

Merz' Blick auf die deutsche Bankenlandschaft ist dabei durch seine berufliche Erfahrung geprägt. Er wurde im Juni 2010 vom staatlichen Bankenrettungsfonds Soffin beauftragt, einen Käufer für die angeschlagene Landesbank WestLB zu finden. Das misslang. Es war der letzte Versuch in Deutschland, die Grenzen des dreigliedrigen Bankensystems aus Privatinstituten, öffentlichen Banken und Genossenschaftsbanken zu überwinden. Deshalb blieb es bei der zersplitterten Landschaft mit eher kleineren Instituten - im Gegensatz etwa zu Italien und Frankreich. Weil Merz die Bedeutung von Banken für ein grosses Industrieland kennt, wird auch sein Widerstand gegen eine Übernahme der Commerzbank durch die italienische UniCredit verständlicher.

Die Kombination von harten Vorschriften für den Bankensektor und der fehlenden Kapitalmarktunion sind für Merz gravierend. «Wir müssen über die Regulierung unserer Banken reden. Die ist zu rigoros», sagte er beim Markenverband. In Deutschland laufe beim Thema Finanzierung zu viel über Banken. In den USA, aber auch in anderen Teilen Europas sehe man, dass es viel mehr Möglichkeiten über den Bankensektor hinaus gebe. «Viele Unternehmen in Deutschland sind auch aus diesem Grund unterkapitalisiert.»

Noch steht Merz mit seinem Vorstoss in der Regierung alleine. Finanzminister Lars Klingbeil hat sich dazu bisher nicht geäussert. Zudem nennt Merz bisher keine Details, was genau er möchte. Aber in der Bankenbranche hofft man, dass auf dem Ecofin-Treffen der EU-Finanzminister im Dezember über das Thema gesprochen wird und der EU-Kommission dann erste Prüfaufträge gegeben werden. In der EU hat Merz zumindest bei der Kapitalmarktunion den französischen Präsidenten Emmanuel Macron als Verbündeten, der ebenfalls Erfahrung aus der Finanzbranche mit ins Amt brachte - zuletzt drängten beide beim deutsch-französischen Ministerrat in Toulon auf Fortschritte. Allerdings sind nicht alle begeistert. Zentralbanker warnen, dass Europa nicht den Weg Trumps zur Deregulierung mitgehen sollte.

Aus der Bankenbranche bekommt Merz jedenfalls Zustimmung: «Erfreulicherweise kommt Bewegung in die Regulierungsdebatte – entscheidend wird nun sein, zügig praktikable Massnahmen zu identifizieren und umzusetzen», sagt etwa Hilmar Zettler, Mitglied der Geschäftsleitung des Bankenverbandes, zu Reuters. Handlungsbedarf bestehe an verschiedenen Stellen, etwa bei den Anforderungen, mit wieviel Kapital Banken ihr Geschäft unterfüttern müssen. Die Vorschriften dazu würden in Europa bis 2033 sogar noch schrittweise verschärft. Stattdessen sollte die EU wie Grossbritannien oder Kanada ein Regulierungsmoratorium prüfen, das die Anforderungen auf dem Stand von 2025 einfriere, forderte Zettler. 

(Reuters)