cash.ch: Herr Siccardi, Medacta kam 2019 an die Schweizer Börse. Die Aktie wurde in der Spitze zu über 160 Franken gehandelt. Obwohl das Unternehmen erfolgreich ist, bewegt sich der Titel momentan um 150 Franken herum. Woran hakt es?

Francesco Siccardi: Ja, die Aktie wurde in 2021 über 160 Franken gehandelt. Nach der Pandemie hat die Wirtschaft wieder Fahrt aufgenommen und die Aktienkurse sind 2021 nach oben ausgerissen und haben danach wieder korrigiert. Das war nicht nur bei Medacta und unseren Mitbewerbern so, sondern auch beim SPI und SMI. Damals hatten wir zudem negative Zinsen. Deshalb ist der Vergleich zwischen heute und damals nicht wirklich möglich und hat darum nichts mit unserer Leistung oder unseren Fundamentaldaten zu tun. Wir generieren heute praktisch doppelt soviel Umsatz wie beim Börsengang, unsere Profitabilität ist weiterhin hoch im oberen 20er-Prozentbereich und auch unsere Aktie hat sich über den Zeitraum entsprechend gut entwickelt. Alleine in diesem Jahr ist unsere Aktie gut 40 Prozent gestiegen.

Momentan setzt Medacta rund 600 Millionen Franken um. Sie wollen in den nächsten drei bis fünf Jahren die Umsatzmilliarde schaffen. Wie werden Sie dieses Ziel erreichen?

Wir werden unsere Strategie der vergangenen Jahre fortsetzen. Das heisst, wir wollen weiterhin dort wachsen, wo wir schon stark sind: Bei unseren Kerngeschäften mit Hüft- und Kniegelenkimplantaten. Hinzu kommen andere Felder wie Schulter, Wirbelsäule und Sportmedizin, in letzterem haben wir dieses Jahr eine Akquisition gemacht. Diese Felder werden in Zukunft ebenfalls Pfeiler unserer Entwicklung sein. In 2024 hatten wir einen Umsatz von rund 591 Millionen Euro. Unsere Guidance für das Jahr 2025 ist ein Umsatzwachstum von 16 bis 18 Prozent bei konstanten Währungen. Dann bekommen Sie einen Startpunkt für das Jahr 2025. Wir planen, unseren Trend, über dem Markt zu wachsen, fortzusetzen - und wir wollen vor allem geographische Märkte weiter ausbauen, wie zum Beispiel in den USA und Japan, die schon heute zu unsere Hauptmärkten zählen. Dort sehen wir weiterhin Potenzial. Wir haben momentan einen globalen Marktanteil von ungefähr zwei Prozent, den wir mit unseren schon gut laufenden Produkten weiter ausbauen wollen. Es ist also eine Kombination von weiterer Marktpenetration und Expansion von neuen Geschäftsbereichen.

Sie sprachen von den USA und Japan. Welche Trends in diesen Märkten stützen Ihre Entwicklung?

USA und Japan waren Beispiele. Es gibt gewisse Trends, die den gesamten Orthopädiemarkt betreffen. Die Bevölkerung wird älter, doch auch der Zugang zu Gesundheitsleistungen und die Qualität der Implantate verbessern sich. Deshalb lassen sich öfter auch jüngere Menschen Gelenkimplantate einsetzen. Sie müssen sich weniger Sorgen als früher um die Beständigkeit der Produkte machen und können zu ihren normalen Aktivitäten, wie auch Sport, zurückkehren. So dürfte der Orthopädiemarkt langfristig um drei bis vier Prozent jährlich wachsen. Wir wollen schneller als der Markt wachsen. Unsere mittelfristige Umsatzguidance impliziert, dass wir dreimal stärker als der Markt wachsen wollen. Die vergangenen fünf Jahre beweisen, dass wir das können.

Was kann schiefgehen, sodass Sie die Umsatzmilliarde nicht oder erst deutlich später schaffen?

Wir agieren in einem kompetitiven Markt. Es gibt grosse Konkurrenten wie Johnson & Johnson, Zimmer Biomet und Stryker. Sie sind im Vergleich zu Medacta Giganten. Wir müssen unseren Mitbewerbern weiterhin voraus bleiben. Das heisst, wir müssen weiterhin innovativ bleiben und das Operationsergebnis der Patienten verbessern. Das Schlimmste wäre, wenn wir durch unseren Erfolg zufrieden und selbstgefällig werden und aufhören das zu tun, was wirklich zählt, nämlich die Patientenzufriedenheit durch Innovationen zu verbessern.

Sie sagen: «Alle Mitarbeitenden kennen den Plan.» Was macht Sie da so sicher?

Wir kommunizieren regelmässig mit unseren Mitarbeitern und informieren alle über unsere mittel- bis langfristigen Pläne. Wir haben einen rollenden Budgetprozess, in den die Kollegen eingebunden sind. Wir haben für unseren Plan sogar einen eigenen Namen. Medacta wächst sehr schnell. Was heute funktioniert, funktioniert morgen vielleicht nicht mehr, weil wir uns verändern. Daher ist es uns wichtig, dass die Mitarbeiter eingebunden werden. Wer ein Problem sieht oder einen Verbesserungsvorschlag hat, soll es mitteilen und sich nicht zurückhalten.

Treffen Sie Ihre Leute regelmässig?

Wir wachsen so rasch, dass ich nicht mehr alle Mitarbeiter sehen oder sprechen kann. Aber ich habe 40 bis 50 Lunch-Events pro Jahr, an denen Kollegen aller Abteilungen teilnehmen. Wir sprechen über unser Wachstum und unsere Vision. Ich frage sie auch jedes Mal, welche Probleme und Chancen sie sehen, was wir in verschiedenen Bereichen verbessern können, nicht nur geschäftlich, sondern auch im Bereich Unternehmenskultur und Work-Life-Balance. Aber nicht nur ich führe diese Lunch-Events durch, dies macht auch mein Bruder und auch das Senior Management. Somit erhalten wir wichtige Antworten und Informationen. Das hilft auch der Unternehmenskultur, die für mich sehr wichtig ist. Im September veranstalteten wir ein Fest, zu dem alle Mitarbeiter eingeladen waren - samt Partnerinnen und Partnern sowie Kindern. Das war Spiel und Spass, und wir konnten auch dort über unsere Wachstumspläne sprechen.

Im März 2025 hat Medacta das auf Sportmedizin spezialisierte US-Unternehmen Parcus Medical übernommen und hat nun eine erste Produktionsanlage in den Vereinigten Saaten. Ich nehme an, der Schritt war schon vor der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten geplant. Hatten Sie Glück, dass Sie noch vor den Zöllen einen Fuss in den Vereinigten Staaten hatten?

Ja, der Zeitpunkt lag günstig. Aber nein, das hat keinen Einfluss auf uns, denn zum einen trägt Parcus nur rund  1 bis 1,5 Prozent Prozent zu unserem Umsatz bei. Zum anderen: Die Produkte von Medacta sind nicht von den US-Zöllen betroffen.

Weshalb nicht? Erklären Sie.

Es gibt internationale Abkommen, die bestimmte Güter von Zöllen ausnehmen. In unserem Fall ist es das Nairobi-Protokoll. Gewisse Medizinprodukte sind von den Zöllen befreit. Das sind Medizinprodukte für Menschen mit Behinderung. Es ist genau definiert, welche Medizinprodukte darunter fallen und für welche Beeinträchtigungen es zutrifft. Ein Beispiel ist, dass eine Person alltägliche Tätigkeiten, wie Gehen, nicht mehr ausführen kann und somit  dauerhaft eingeschränkt ist. Das trifft beispielhaft auf Patienten zu, die ein Implantat an Knien oder Hüften benötigen. Das Implantat kann man ja nicht einfach wieder herausnehmen.

Was ist der Unterschied zu anderen Medizinprodukten?

Da gibt es unterschiedliche Kriterien. Einige Medizinprodukte werden zur Therapie eingesetzt. Sobald der Patient wieder gesund ist, braucht er das Produkt nicht mehr - sagen wir zum Beispiel Schrauben und Platten, die ein gebrochenes Bein vorübergehend stabilisieren. Auf solche Güter dürfen Zölle erhoben werden.

Nun aber: Wie viele andere Aktien auch hat die Aktie von Medacta nach der Zoll-Ankündigung von US-Präsident Donald Trump im April markant nachgegeben - obwohl Ihr Unternehmen nicht direkt betroffen gewesen ist. Haben Sie ein Kommunikationsproblem?

Wir wussten nichts vom Nairobi-Protokoll - niemand wusste davon, weil wir es zuvor nicht brauchten. Nach der Ankündigung der Tarife stellte sich auf dem Aktienmarkt Verunsicherung ein und er reagierte entsprechend stark. Die vielen Änderungen rund um die Tarife nach dem sogenannten Liberation Day halfen dem Aktienmarkt nicht, sondern verunsicherten noch mehr. Wir prüften die Lage und wussten nach rund einem Monat, dass wir ausgenommen sind. Dann haben wir die Investoren entsprechend informiert, schneller als unsere Mitbewerber.

Da Sie das Nairobi-Protokoll nicht kannten: Wie kamen Sie darauf?

Wir taten, was man in solchen Situationen tun kann: Wir haben unsere verschiedenen Kanäle aktiviert. Es folgten Gespräche mit Experten und Partnerunternehmen. So verdichteten sich die Hinweise auf das Nairobi-Protokoll. Das liessen wir dann durch zwei verschiedene Kanzleien prüfen, die auf Handels- und Zollrecht spezialisiert sind. So gewannen wir Klarheit.

Medacta hat unter anderem ein Kniegelenksimplantat entwickelt, das sich der natürlichen Anatomie jedes Patienten anpasst. Was waren die Hürden, die Sie zwischen der Idee und Marktreife des Produkts überwinden mussten?

Der Schlüssel sind Ideen und der Austausch mit den Ärzten, die unsere direkten Kunden sind. Sie kennen den ungedeckten klinischen Bedarf aus der Praxis. Wir hören den Chirurgen zu. Haben wir eine Idee identifiziert, müssen wir unsere Aufgaben machen. Unsere Ingenieure arbeiten mit den Chirurgen zusammen und entwickeln neue Implantate und chirurgische Instrumente. Dabei ist es auch wichtig, dass die Ideen schnell und effizient in neue bahnbrechende Produkte, Technologien und chirurgische Techniken umgesetzt werden. Wenn man etwas Bahnbrechendes auf den Markt bringt, das anders ist, als der Chirurg es bisher gewohnt war, ist es sehr wichtig, dass man den Chirurgen bei der Aneignung der neuen Technik et cetera unterstützt. Diese Unterstützung in Form von «medizinischer Ausbildung» zielt immer darauf ab, das Patientenergebnis zu verbessern. So lief es auch bei dem Kniegelenk.

Was taten Sie da?

Nur wenige Menschen haben von Natur aus ganz gerade Beine. Doch die herkömmlichen operative Technik für ein Knieimplantat forcierte eine solche Begradigung - mit der Folge, dass die Patienten im Alltag, bei der Arbeit und beim Sport Probleme haben. Sie fühlen sich instabil, haben oft Schmerzen und sind oft eingeschränkt. Die Innovation war nun eine neue Technik und ein spezielles Kniegelenk, das sich der natürlichen Beinstellung anpasst und dem Patienten wieder Stabilität bietet. Viele Patienten können ihre alltäglichen Aktivitäten wieder nachgehen und sogar wieder Sport treiben.

Ich gehe davon aus, dass der Entwicklungsprozess nicht immer schnurgerade war.

Die Idee kann oft rasch da sein. Doch dann braucht es Spezialisten, die aus der Idee ein taugliches Produkt formen. Eine der grössten Hürden ist aber die Regulierung. Speziell in Europa ist der Prozess für medizintechnische Produkte extrem langwierig. Hier müssen Sie mit drei bis vier Jahren rechnen, bis Sie die Marktzulassung erhalten. In den USA ist das oft eine Sache von rund drei Monaten. Ich hoffe, dass die Schweiz hier den Vereinigten Staaten und nicht Europa folgt.

Wie gross und nachhaltig ist Ihr Vorsprung gegenüber der Konkurrenz?

Wir haben verschiedene Geschäftsfelder in unterschiedlichen Marktphasen. Im Bereich Knie zum Beispiel, glaube ich, wird es mehrere Jahre dauern, bis die Konkurrenz vergleichbare Knieimplantate wie Medacta auf den Markt bringen wird. Die Zeit bis zur Markteinführung ist lang, auch durch die benötigte Zeit für die regulatorischen Erfordernisse, die Medacta bereits erfüllt hat. Deshalb gehen wir davon aus, dass wir in den nächsten Jahren im Kniebereich schneller wachsen werden als der Markt.

Schauen wir auf die Jahresziele. Sie haben sich ein Umsatzwachstum von 16 bis 18 Prozent sowie eine EBITDA-Marge von 28 Prozent vorgenommen. Sind Sie aktuell auf Kurs und werden Sie die Ziele erreichen?

Wir haben diesen Ausblick im September mitgeteilt. Wir sind zuversichtlich, dass wir diese Jahresziele erreichen können.

Und wie steht es um das Erreichen der Mittelfristziele - 10 bis 14 Prozent Umsatzwachstum pro Jahr bis 2027 und EBITDA-Marge von 28 Prozent?

Dies ist eine herausfordernde Guidance. 10 Prozent Wachstum - das ist zirka dreimal schneller als das Marktwachstum; 14 Prozent Wachstum ist rund viermal schneller, als der Markt wächst. Aber wir sind zuversichtlich, dass wir diese Ziele erreichen können. Natürlich kann immer etwas dazwischen kommen, eine nächste Krise wie die Coronapandemie zum Beispiel.

Die Dividende wurde letztmals 2024 erhöht. Wie stehen die Chancen, dass sie bald wieder weiter steigt?

Wir diskutieren die Ausschüttungspolitik laufend auf Stufe Verwaltungsrat, wo auch der Vorschlag an die Generalversammlung formuliert wird. Wie das für das kommende Jahr aussieht, darüber wird der Verwaltungsrat im nächsten Jahr entscheiden und den Vorschlag zur Abstimmung an der Generalversammlung vorlegen. Wenn Sie zurückblicken, in der Vergangenheit haben wir eine Dividende ausgeschüttet, die entweder gleich hoch oder höher war als im Vorjahr.

Francesco Siccardi ist seit 2018 CEO des Tessiner Orthopädie-Unternehmens Medacta. Zuvor war er Executive Vice President und Medical Affairs Manager (2013-2014). Francesco Siccardi ist seit 2015 Verwaltungsratsmitglied der Surgical Practice Resource Group SA, Lugano und war von 2011 bis 2023 Verwaltungsratmitglied der Medacta for Life Foundation. Siccardi hat einen Master in Science in Biomedical Engineering der Polytechnischen Universität Mailand (2002) und hat ein Executive Program for Growing Companies (EPGC) an der Stanford Business School Executive Education in den USA (2009) abgeschlossen. Mecata stellt Gelenkimplantate her. Das Unternehmen hat im September über das erste Halbjahr 2025 berichtet und dazu auch über die künftige Entwicklung informiert.

Reto Zanettin
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