Der Nahrungsmittelriese aus Vevey am Genfersee, der über Jahrzehnte als Hort der Berechenbarkeit und Stabilität galt, ist inzwischen zum Krisenfall der Branche geworden. Denn bei Schlüssel-Indikatoren wie dem Umsatzwachstum und der Aktienpreisentwicklung hinkt Nestle, deren Produktpalette über Süsswaren wie KitKat, Nespresso-Kaffee, Vittel-Wasser bis hin zu Fertiggerichten und Tiefkühlprodukten wie Maggi oder Wagner reicht, inzwischen Rivalen hinterher.
«Die homöopathischen Anpassungen mit einer Stärkung der grossen Marken, wie das der bisherige CEO Laurent Freixe machte, honoriert der Markt nicht», erklärte Reto Lötscher, Analyst der Luzerner Kantonalbank. «Es wird einen substanziellen Umbau geben, der über die nächsten Jahre gehen wird.»
Nestle ernannte Navratil am Montag überraschend zum Konzernchef, nachdem sein Vorgänger über eine Beziehung zu einer Unterstellten gestolpert war. Der dritte Konzernchef innerhalb eines guten Jahres ist auch Ausdruck von tiefer liegenden Problemen.
«Die Aktienperformance eines Unternehmens spiegelt am besten wider, wie es von Investoren bewertet wird. Die Nestlé-Aktie befindet sich auf einem Zehn-Jahres-Tief und ist in den letzten Jahren deutlich hinter Danone und Unilever zurückgefallen,» erklärt Jon Cox, Analyst bei Kepler Cheuvreux. Danone und Unilever seien bei ihrer Neuausrichtung unter neuen Management-Teams deutlich weiter.
Analysten verweisen auf einen Branchentrend hin zu einer stärkeren Fokussierung. So will sich etwa der US-Konzern Kraft Heinz aufspalten, in ein Geschäft mit Sossen und eines mit Lebensmitteln. Derweil planen Keurig Dr Pepper und JDE Peet’s einen Zusammenschluss. Die fusionierte Gesellschaft soll jedoch nicht als ein Konzern bestehen bleiben. Geplant ist eine Aufspaltung in zwei eigenständige, börsennotierte Firmen: eine für das globale Kaffeegeschäft und eine für Erfrischungsgetränke in Nordamerika.
«Grösse allein ist kein Erfolgsgarant mehr», erklärt Lötscher. Nestlé müsse sich klarer auf hochpreisige Produkte ausrichten, um das Wachstum anzukurbeln. «Ein klares, geschärftes Produktportfolio ist der Schlüssel für die nächsten Jahre.»
Auch Baader-Helvea-Analyst Andreas von Arx beobachtet, dass sich die Lebensmittel- und Getränkeindustrie im letzten Jahrzehnt verändert hat. «Grössen- und Marktanteilsvorteile allein garantieren nicht mehr die von Nestlé geforderten Finanzergebnisse.» Er hoffe, dass der neue Konzern-Chef den Ehrgeiz habe, grundlegende Probleme in einer Reihe von Produktbereichen anzugehen.
Dazu gehörten Tiefkühlkost, das europäische Schokoladengeschäft, gewöhnliche Milchprodukte, Kochzutaten und Vitamine sowie günstige Wassermarken und günstige Säuglingsnahrung. «Eine gross angelegte Verkleinerung des Portfolios würde dann auch eine gründliche Überprüfung des Personalbedarfs in der Zentrale ermöglichen.»
Investor fordert: Personalbestand muss sinken
Ein Top-20-Investor fordert von Nestle eine Verschärfung des Sparkurses: «Man braucht jetzt einen, der die Probleme richtig angeht und die Kosten rausnimmt.» Der Personalbestand müsse verringert werden. Zum Ende des vergangenen Jahres kam Nestle auf 277'000 Mitarbeiter. «Man muss die Organisation wirklich einen grossen Schritt schlanker und effizienter machen.»
Nestle erklärte am Montag, dass die Strategie und die Finanzziele bestehen blieben. Doch Analysten gehen davon aus, dass der Konzern Navratil mit dieser Aussage Zeit verschaffen wollte und es mittelfristig dennoch zu einem Kurswechsel kommen könnte.
Mit Navratil steht nun ein weiterer Firmenveteran am Steuer. Allerdings wurde der 49-Jährige erst in diesem Jahr in die Geschäftsleitung berufen, sechs Monate nachdem er die Leitung des Nespresso-Geschäfts übernommen hatte. Zuvor war Navratil überwiegend in Mexiko und Mittelamerika tätig.
«Ich denke, dass der neue CEO und vor allem der neue Verwaltungsratspräsident neue Impulse setzen werden», erklärte Lötscher mit Blick auf Pablo Isla. Der ehemalige Chef der Zara-Mutter Inditex ist bereits im Verwaltungsrat und soll das Präsidium im April 2026 übernehmen. «Er bringt den Blick von aussen ein.» Isla werde bei der Neuausrichtung eine tragende Rolle übernehmen müssen.
(Reuters)